Die rettende Kraft der Torah – Lerntraditionen in der Überlieferung der Hebräischen Bibel

Autor/innen

  • Beate Ego

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i03.596

Abstract

Ein Midrasch in Bereshit Rabba 65,20 (130a)
erzählt eine Anekdote, wonach sich die Völker der
Welt darüber beklagten, dass es ihnen bislang nicht
gelungen sei, das Volk Israel zu besiegen. Die Antwort,
die diese darauf erhalten, wirkt auf den ersten
Blick überraschend und entwaffnend, wenn
man ihnen sagt: »Gehet und beobachtet ihre Syna -
gogen und Lehrhäuser; solange ihr dort Kinder
findet, die mit ihrer Stimme zwitschern – d.h. die
Torah laut rezitieren –, könnt ihr ihnen nicht beikommen,
denn ihr (himmlischer) Vater hat es ih -
n en versprochen.«2
Lernen bildet nach dieser Überlieferung somit
ein Element, das für Israel von fast fundamentaler
Bedeutung ist, denn es wird geradezu zum Garan -
ten seiner Existenz inmitten der feindlichen Völkerwelt.
Dass das Bestehen einer Gesellschaft in
enger Bezogenheit zu ihrer Fähigkeit, ihr religiöses
und kulturelles Wissen der nächsten Generation
zugänglich zu machen, verstanden werden
muss, ist nicht überraschend, und so kann man
dieses Diktum zunächst in metaphorischer Form
soziologisch deuten.
Ein Blick auf die Traditionen der Hebräischen
Bibel zeigt darüber hinaus, dass hinter dieser Aussage
auch eine Art »Lerntheologie« steht, die sich
im alten Israel und frühen Judentum im Laufe
von mehreren Jahrhunderten herausgebildet hat.
Nicht zuletzt im Zusammenspiel mit so gravierenden
geschichtlichen Ereignissen wie der Zerstörung
des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n.Chr.
hat diese dann die konkrete Gestalt und Ausformung
gefunden, wie sie für das synagogale Judentum
eigentlich bis heute eine tragende Rolle spielt.
Lernen stellt eine Art Gottesdienst dar, der letztlich
die Existenz des ganzen Volkes sichern kann.
In diesem großen Rahmen soll es das Ziel dieses
kleinen Beitrags sein, einige elementare Grund -
linien in der Hebräischen Bibel herauszuarbeiten,
die auf ein solches elementares Verständnis des
Lernens hingeführt haben. Nach Ausführungen
zu den biblischen Grundlagen des religiösen Lernens,
wie wir sie vor allem im Deuteronomium
und bei Esra (I) sowie in der prophetischen Überlieferung
(II) klar greifen können, folgen Ausführungen
zu eschatologischen Dimensionen des Ler -
nens (III) sowie zur spätbiblischen und frühjüdischen
Gebetsfrömmigkeit (IV).3
1 Die Grundlagen:
Lernen im Deuteronomium und bei Esra
Wenn wir einmal zu den Anfängen einer Entwicklung
biblischer Lernkonzeptionen gehen wollen,
so sind es verschiedene Texte im Deuteronomium,
die eine wichtige Basis für das jüdische
Lernverständnis bilden. An erster Stelle ist in diesem
Zusammenhang Dtn 6,4–9 zu nennen, ein
Text, den Norbert Lohfink einmal ganz prägnant
als »Schlüsseltext zum Glaubenlernen«4 bezeichnet
hat. Hier heißt es in einer Rede, die im Rahmen
des Erzählsettings dieses Buches Mose kurz vor
seinem Tod an der Grenze zum verheißenen Land
an die Israeliten richtet.

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Veröffentlicht

2021-01-22