Lernen als zentraler Bestandteil jüdischer Identität. Das Zeugnis der Rabbinen
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i03.598Abstract
»Einmal beobachtete ich«, schreibt ein christlicher
Gelehrter, der Warschau während des Ersten
Weltkrieges besuchte, »eine große Anzahl Kutscher
auf einem Parkplatz, aber kein Fahrer war
zu sehen. In meinem eigenen Land hätte ich gewußt,
wo sie zu suchen waren. Ein kleiner jüdischer
Junge zeigte mir den Weg: In einem Hof war
im zweiten Obergeschoß das Schtibl der jüdischen
Kutscher. Es bestand aus zwei Räumen; der eine
war voller Talmudbände, der andere war ein Gebetsraum.
Alle Kutscher waren mit eifrigem Studieren
und religiösen Diskussionen beschäftigt …
Ich fand dann heraus und wurde überzeugt, dass
alle Berufe, die Bäcker, die Metzger, die Schuhma -
cher usw., ihr eigenes Schtibl im jüdischen Bezirk
haben, und jeder freie Augenblick, den sie ihrer Ar -
beit entziehen können, ist dem Studium der Torah
gewidmet. Und wenn sie in vertrauten Gruppen
zusammenkommen, bittet einer den anderen: ›Sog
mir a stikl Torah … Sag mir ein Stückchen Torah‹.«
Diese kurze Beschreibung eines Berichtes gibt
Abraham J. Heschel in seinem Bändchen Die
Erde ist des Herrn, in dem er Die innere Welt der
Juden in Osteuropa zum Leben erweckt.2 Die da -
rin geschilderte Liebe zum Studium der Torah gehört
zu den Konstanten religiös-jüdischer Iden tität
von den Anfängen an. Judentum beginnt gera -
dezu dort, wo der Schreiber, der Sofer, auf der politischen
und gesellschaftlichen Bühne als Ver -
mittler der göttlichen Botschaft auftritt. Im biblischen
Buch Esra 7,10 heißt es: »Denn Esra war
von ganzem Herzen darauf aus, die Torah JHWHs
zu vermitteln (lidrosch) und danach zu handeln
und sie als Satzung und Recht in Israel zu lehren.
«
Die Bindung an die Torah, die stets der Vermittlung
bedarf, der Auslegung, der »Übersetzung«
in einem weiten Sinn, steht fortan im Mittelpunkt.
Dabei bedeutet Torah schon immer mehr als die
fünf Bücher Mose, ist Ausdruck der verschiedenen
Regelwerke des Lebens und des Kultes, ist Sinnbild
des richtigen Verhaltens und des Umganges
mit Gott.
Nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem
im Jahr 70 n.Chr. und nach der Niederschlagung
des Bar Kochba-Aufstandes 135 n.Chr. bot
zudem der Opferdienst am Heiligtum keine Kommunikationsmöglichkeit
mehr mit Gott. Das bedeutet
nun nicht, dass die Funktion des Tempels
als Mittler der Versöhnung zwischen Gott und
Mensch völlig obsolet geworden wäre. Zum einen
bot die Synagoge einen zeitgemäßen »Ersatz«,
zum anderen war es das Studium, das zum Opfer
avancierte. Vor allem die rabbinische Bewegung,
nach 70 als Sammelbecken verschiedener Gruppen
entstanden, um Judentum nach dem Krieg
gegen Rom zu gestalten, ohne auf apokalyptische
(Er-)Lösungen zu hoffen, schuf eine auf der Basis
der Lehre und des Studiums beruhende jüdische
Kultur, bei der nicht der bewaffnete Aufständische,
sondern der Kämpfer in der Weisheit, der
Gelehrte in der Torah, zum Hoffnungsträger der
Zukunft wird. Zwar bildete diese rabbinische Bewegung
in den Anfängen nur eine kleine Minderheit
innerhalb des reichen Spektrums des Judentums,
doch gelang es ihr im Laufe der Jahrhunderte,
durch beharrliche Durchdringung aller Lebensbereiche
zunehmend zum bestimmenden Fak -
tor zu werden.