Zwischen Jerusalem und Rom. Reflexionen über 50 Jahre Nostra Aetate
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i03.603Abstract
Kurze Auszüge aus dem Text: 2
Zweifellos ist die Schoa der historische Tiefpunkt
der Beziehungen zwischen Juden und unseren
nichtjüdischen Nachbarn in Europa. Dem
Kontinent, der für mehr als ein Jahrtausend vom
Christentum genährt wurde, entwuchsen bittere
und böse Triebe, die sechs Millionen unserer Brüder
mit industrieller Präzision ermordeten, darunter
eineinhalb Millionen Kinder. Viele von denen,
die an diesem abscheulichen Verbrechen beteiligt
waren und ganze Familien und Gemeinschaften
vernichteten, wuchsen in christlichen Familien und
Gemeinschaften auf.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann
in den westeuropäischen Ländern eine neue
Ära der friedlichen Koexistenz und Akzeptanz, und
in vielen christlichen Konfessionen zog eine Ära
des Brückenbauens und der Toleranz ein. Glaubensgemeinschaften
bewerteten ihre historischen
Ablehnungen anderer neu, und es begannen Jahrzehnte
der fruchtbaren Interaktion und Zusammenarbeit.
In den darauffolgenden sieben Jahrzehnten
begannen jüdische Gemeinden und spirituelle Führungspersönlichkeiten,
das Verhältnis des Judentums
zu den Mitgliedern und Führungspersönlichkeiten
anderer Glaubensgemeinschaften neu
zu bewerten.
Vor fünfzig Jahren, zwanzig Jahre nach der
Schoa, begann die katholische Kirche mit ihrer
Erklärung Nostra Aetate (Nr. 4) einen Prozess der
Selbstprüfung, der in zunehmendem Maße dazu
führte, dass die kirchliche Lehre von jedweder
Feindseligkeit gegenüber Juden bereinigt wurde,
wodurch Vertrauen und Zuversicht zwischen unseren
jeweiligen Glaubensgemeinschaften wachsen
konnten.
Nostra Aetate ebnete 1993 auch den Weg zur
Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen des
Vatikans mit dem Staat Israel und »beklagte (kräftig)
alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen
des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner
Zeit und von irgendjemandem gegen die
Juden gerichtet haben« als eine Angelegenheit religiöser
Pflicht. Schließlich forderte Nostra Aetate,
»gegenseitige Kenntnis und Achtung« zu fördern
und »brüderliche Gespräche« zu führen.
Wir zollen der Arbeit der Päpste, Kirchenleiter
und Gelehrten Beifall, die leidenschaftlich zu diesen
Entwicklungen beigetragen haben, darunter
den entschlossenen Befürwortern des katholischjüdischen
Dialogs am Ende des Zweiten Weltkrieges,
deren gemeinsame Arbeit ein maßgeblicher
Antrieb zu Nostra Aetate war. Die wichtigsten Meilensteine
waren das Zweite Vatikanische Konzil,
die Gründung der Päpstlichen Kommission für die
religiösen Beziehungen mit den Juden, die Anerkennung
des Judentums als lebendiger Religion
mit einem ewigen Bund, die Anerkennung der
Schoa und ihrer Vorläufer sowie die Schaffung diplomatischer
Beziehungen mit dem Staat Israel.