349 Rosen – ein innovatives Gedenkprojekt
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i03.607Abstract
Gedenkveranstaltungen in Deutschland und
Österreich leiden an Sterilität. Die immer gleichen
Reden, gehalten in absoluter political correctnes
und meist im Stil des vereinnahmenden »Wir«
(»Wir haben uns heute hier versammelt…«; »Wir
gedenken der Opfer…«) sprechen nur noch eine
kleine Gruppe von Insidern an.1 Die meisten jungen
Leute empfinden gähnende Langeweile oder kommen
erst gar nicht dazu.
Ein ungewöhnliches und innovatives Gedenkprojekt
hat jüngst eine kleine Gruppe Engagierter
des Fördervereins Mahnmal für die deportierten Jüdinnen
und Juden Badens unter Leitung von Rainer
Moser-Fendel unternommen. Zum Jahresgedenktag
der Deportation aller badischen Juden in
das südfranzösische Lager Gurs am 22. Oktober
1940 hat die Gruppe am neugestalteten Platz der
alten Synagoge zwischen Universität und Theater
in Freiburg jedem einzelnen der aus Freiburg verschleppten
Juden ein besonderes Gedenken zuteil
werden lassen. Jeder und jedem der 349 Jüdinnen
und Juden, den Frauen, Männern, Kindern,
wurde eine eigene Rose gewidmet, an deren Stiel
ein Gedenkzettel mit ihrem je individuellen Namen
angebracht war. Die Rosen wurden auf den Brunnenrand
gelegt, der dem Grundriss der ehemaligen
Synagoge entspricht, die bis 1938 an diesem
Ort stand, dann niedergebrannt und damit für immer
zerstört wurde. Flyer am Rande des Brunnens
wiesen auf den historischen Hintergrund und den
Sinn der Aktion hin.2
Zufällig vorbei gekommene Passanten, Touristen
oder Menschen, die die Gedenkstätte gezielt
aufsuchten, fanden zu ihrer Überraschung die frischen
Rosen, nahmen sie in die Hand, untersuchten
andere Rosen auf weitere Namen, legten die
vom Wind herunter gewehten Rosen wieder an ihren
Platz. Manch einer trug eine Rose mit nach
Hause, womöglich, um sich das Gedenken dieses
einen Menschen in besonderer Weise anzueignen.
Nicht namenlose Opfer, sondern Menschen
mit einem Namen, mit einer Biografie, die mit
einem konkreten Ort, einer konkreten Stadt verbunden
ist, stehen im Mittelpunkt eines solchen
Gedenkens. Seit dem fundamentalen Wandel gegen
Ende des 20. Jahrhunderts von den Gedenkformen
des Helden- und Siegergedenkens hin zur
Erinnerung an die Opfer,3 entstanden an zahlreichen
Orten Mahnmale, die die Namen der Opfer
auflisten. »Yad VaShem«, wörtlich übersetzt »ein
Denkmal und einen Namen« (ein Zitat aus Jes 56,5),
die israelische Gedenkstätte des Holocaust, hat
das Namensgedächtnis zum Programm erhoben
und birgt in seinen online zugänglichen Archiven
möglichst alle Namen der fast sechs Millionen ermordeten
Juden. Die Namen der ermordeten Kinder
werden in der »Halle der Kinder« endlos verlesen.
Analog sind die Mauern der Namen am
Mémorial de la Shoah in Paris, die Gedenkstätte
der ermordeten Juden in Kiew, die Pinkas-Synagoge
in Prag nur drei von weiteren unzähligen Orten,
an denen in schier endlosen Listen konkreter
Menschen und ihrer Namen gedacht wird.
Wer heute einen Zugang zu dem ungeheuerlichen
Geschehen der Judenvernichtung im Nationalsozialismus
ermöglichen will, muss die Biografien
der Menschen in den Mittelpunkt stellen, die
von den Ereignissen betroffen oder deren Opfer
sie geworden sind. Eine Biografie kann eine ganze
Epoche widerspiegeln, schreibt Walter Benjamin,
der selbst Opfer der Nazipolitik wurde.