Paul Niedermann - geb. 1. November 1927 in Karlsruhe

Autor/innen

  • Reinhold Boschki

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i03.612

Abstract

»Die größte Freude ist für mich, dass ihr mich
nicht vergessen habt«, sagte Paul Niedermann
mehrfach, als eine rund zehnköpfige Delegation
der Fachstelle für Christlich-Jüdische Gedenkarbeit
(Erzdiözese Freiburg), die aus dem diözesanen
Jugendprojekt Erinnern und Begegnen (gegründet
1988) hervorging, ihn in Bry-sur-Marne bei
Pa ris besuchte.1 Anlass war sein 90. Geburtstag,
den er im Altenheim des christlichen Ordens der
Weißen Väter feierte. Seine Kräfte lassen nach,
doch seine Erinnerungen vor allem an die Zeit seiner
Kindheit und Jugend sind lebendig wie eh und je.
Biografische Streiflichter 2
Als Sohn des bei der jüdischen Gemeinde in
Karlsruhe angestellten Albert Niedermann und
seiner Frau Friederike geboren, erlebte Paul zusammen
mit seinem Bruder Arnold eine kurze, glückliche
Kindheit. Kurz, weil bereits im Alter von
sechs Jahren die Nationalsozialisten die Macht in
Deutschland übertragen bekamen und unverzüglich
den innersten Kern ihrer Ideologie, den Rassenantisemitismus,
in brutale politische Aktion umsetzten.
Im Jahr 1936 musste Paul seine Schule verlassen.
Der Klassenlehrer in SA-Uniform schrie
ihn eines Morgens an: »Niedermann, aufstehen,
du bist Jude, du kannst nicht mit dem nationalsozialistischen
Gruß grüßen. Nimm deine Sachen zusammen
und verschwinde nach Hause und komm
nicht wieder.« 3
Eine Zeitlang besuchte Paul noch die jüdische
Schule, bis auch sie geschlossen wurde. Für den
Jungen war besonders schlimm, nicht mehr ins Freibad
oder ins Kino gehen und keine Straßenbahn
mehr benutzen zu dürfen, selbst das Fahrradfahren
wurde für Juden verboten. Am 9. November
1938 brannte auch in Karlsruhe die Synagoge.
Am 22. Oktober 1940 wurden die badischen Juden
– auch die Juden von Karlsruhe – deportiert,
eine wahnwitzige Aktion des Gauleiters Robert
Wagner, der der erste sein wollte, der seinen Gau
nach Berlin als »judenfrei« melden wollte. Die
Züge gingen nach Westen, nicht nach Osten (die
Vernichtungslager wurden erst ab 1942 errichtet),
zunächst ins bereits besetzte Frankreich. Das Ziel
war anfangs weder den verantwortlichen Nazis,
noch den Deportierten klar, man wollte die Juden
einfach weghaben. Alles geschah vor den Augen
der Karlsruher und der badischen Bevölkerung in
den 138 Orten, aus denen die Juden deportiert
wurden.
An der Grenze zu Vichy-Frankreich entschieden
die französischen Behörden, die Züge zum südfranzösischen
Lager Gurs am Fuße der Pyrenäen
umzuleiten. Es war von Stacheldraht umgeben
und streng bewacht. Die hygienischen Verhältnisse
waren katastrophal, die Ernährung dürftig.
Viele der deportierten badischen Juden starben bereits
im ersten Winter. Nach acht Monaten wurden
die Familien in ein anderes Lager weiter westlich,
nach Rivesaltes »verlegt«, aus dem manche Kinder
von der jüdischen Hilfsorganisation OSE
(OEuvre de secours aux enfants), z.B. durch Bestechung
des Wachpersonals, herausgekauft werden
konnten, u.a. Arnold, der das Glück hatte, in
die USA ausreisen zu dürfen, und später Paul, für
den eine monatelange Odyssee durch Südfrankreich
und das von den Deutschen besetzte Frankreich
begann.

Downloads

Veröffentlicht

2021-01-23

Ausgabe

Rubrik

Persönlichkeiten in Judentum und Christentum