Das Feuer einfangen, die Erlösung im Blick haben: Leben und Werk von Elie Wiesel

Autor/innen

  • Alan Rosen

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.632

Abstract

»Der Talmud entstand nicht zuletzt als Ersatz.
Weil es keinen Tempel mehr gab, traten Gebete an
seine Stelle. Weil es kein souveränes Königreich
mehr gab, entstanden Geschichten, die seinen
Glanz schützten und die ihm innewohnenden
Wer te verkündeten. DemTalmud zufolge besteht
der Himmlische Tempel im himmlischen Jerusalem
noch so, wie er gewesen ist. Feuer kann nicht
durch Feuer zerstört werden. Gleich, wer über
Je ru salem spricht, er trägt es in sich; wer auch im -
mer nach Jerusalem schreit, fängt dessen Feuer
ein und nimmt es in seine Vision auf.« 2
Diese außergewöhnliche Passage stammt aus
einem Vortrag, den Elie Wiesel, seligen Angedenkens,
im Jahr 1968 hielt. Die Passage ist reich und
komplex in geschichtlicher und spiritueller Hinsicht;
sie ist gelehrt, anschaulich und enthält mehrere
Botschaften. Die Zerstörung des alten Tem -
pels in Jerusalem, der vor Jahrhunderten durch einfallende
Armeen niedergebrannt wurde, fordert
noch immer von jedem von uns eine tiefempfundene
Antwort. Mit dieser Empfindung verleiht
Wiesel einer traditionellen jüdischen Lehre Ausdruck,
für die die Zerstörung des Tempels ein zentrales
Ereignis darstellt, das unendlich viele As pekte
jüdischer Praxis und Erfahrung betrifft. Jüdisches
Leben in der Spur der Zerstörung des Tempels
unterscheidet sich tiefgehend von dem davor.
Wiesel gibt dieser traditionellen Lehre einen eindrucksvollen
lyrischen Ausdruck und besteht darauf,
dass die Vergangenheit mit der Gegenwart
verbunden werden muss: Man muss über die Zerstörung
von Jerusalem wehklagen; nur dann kann
man dessen Feuer einfangen, nur dann kann
man, wie es bei den Weisen heißt, dessen Erlösung
bezeugen.
Elie Wiesel hebt in mehreren Veröffentlichungen
diese Fähigkeit zur Überwindung des räumlichen
und zeitlichen Abstands mit Hilfe eines
Gedichts von Uri Zvi Greenberg hervor, in dem
es um einen Jungen im alten Jerusalem geht, der
nach Rom reisen möchte. Seine Mutter gibt ihm
ein Kissen mit, damit er immer etwas zum Schlafen
dabei hat. Eines Nachts fängt das Kissen Feuer,
und »genau in derselben Nacht geht der Tempel
in Jerusalem in Flammen auf. Ja, man kann tausend
Kilometer vom Tempel entfernt wohnen
und ihn brennen sehen.« 3 Brennende Kissen wie
dieses, so macht Elie Wiesel an anderer Stelle
deut lich, können durch die Zeit genauso reisen
wie durch den Raum, auf ihnen kann man zweitausend
Jahre später ebenso schlafen wie tausend
Kilometer von daheim.4
Aber der Talmud nimmt Bezug auf ein anderes
Feuer und einen anderen Tempel, was Wiesel
inspirierte, seine Lehre über das Trauern durch
eine Botschaft der Hoffnung zu erweitern. Ein
»Himmlischer Tempel«, ein Tempel aus Feuer, besteht
in einem himmlischen Bereich und wartet
auf den richtigen Zeitpunkt, um aufs Neue an seinen
herkömmlichen Ort in Jerusalem herabzu -
stei gen. Auch diese bemerkenswerte Lehre stammt
von den Weisen und geht aus von den Be griffen
Verlust und Erlösung.

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Veröffentlicht

2021-01-23