Sch’ma Israel – die Lebensform von Elie Wiesel
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.634Abstract
1 Sch’ma Israel als Generationenpflicht
Seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden überliefern
jüdische Familien und Gemeinden das
Sch’ma Israel. Ein Gebet im strengen Sinn ist es
nicht, sondern es ist ein Bekenntnis zum einzigen
Gott und bildet so einen wesentlichen Identitätspunkt
der Geschichte, die die jüdischen Gemeinschaften
durchlaufen haben. In seinem wuchti -
gen Auftakt: Höre, Israel! donnert der Dekalog
noch nach, der in Dtn 5,1 gleichfalls mit dem Befehl
beginnt: Höre, Israel! Dtn 6,3, der Vers, der
dem Sch’ma Israel unmittelbar vorausliegt, bezieht
sich auch ausdrücklich auf den Dekalog: »Deshalb,
Israel, sollst du hören und darauf achten, (alles,
was der Herr, unser Gott, mir gesagt hat) zu halten,
damit es dir gut geht und ihr so unermesslich
zahlreich werdet, wie es der Herr, der Gott deiner
Väter, dir zugesagt hat, in dem Land, wo Milch
und Honig fließen.«
Dieser Eingang zum Sch’ma Israel markiert
also einen entscheidenden Rückbezug auf den Dekalog
und zugleich einen Vorweis auf das Sch’ma
Israel selbst, der klar wird, wenn man das 5. Ge -
bot vor sich hat: »Ehre deinen Vater und deine
Mutter, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht
gemacht hat, damit du lange lebst und es dir gut
geht in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir
gibt.« (Dtn 5,16). Sowohl dieses Gebot als auch
der Zugang zum Sch’ma Israel nennt ausdrücklich
das versprochene Land als Zone des Segens und
der Prosperität, die sich aus der praktizierten Zugehörigkeit
des Gottes Israels und der jüdischen Gemeinschaft
ergeben wird – ein klassischer Topos
deuteronomistischer Geschichtsschau: Gott wird
das gute Handeln Israels belohnen, die Abweichung
von der Torah aber sanktionieren.2 Und
wie entsprechend der jüdischen Tradition mit dem
5. Gebot die erste Tafel der Gebote ihren Abschluss
findet, die die »Beziehung bejn Adam la-Ma kom« 3
regelt, also zwischen dem Menschen und dem
Heiligen, so weist der Zugang vom Sch’ma Israel
wieder zurück auf den Kern der ers ten Tafel, auf
den Heiligen Israels und seine Einzigkeit, dessen
Be kenntnis, nachdem es sich zu einem ausdrücklich
monotheistischen Bekenntnis verfestigt hatte,
immer auch die Aufgabe stellte, dieses auch zu
bewahren.4
Damit wurde ein Zusammenhang zwischen
dem Gott Israels und den Bnei Jisrael, den Kindern
Israels, gestiftet. Im Sch’ma Israel verdichtet sich
dieser Zusammenhang in seinem Gebotsteil, der
auf die Weisung folgt, Gott mit allem Vermögen
zu lieben5: »Diese Worte, auf die ich dich heute
verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben
stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen.
Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause
sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du
dich schlafen legst und wenn du aufstehst« (Dtn
6,6 –7). Damit ist klar: In jeder Situation und in
jeder Generation soll das Sch’ma Israel gesprochen
werden, wie Hayim Halevi Donin schreibt:
»Das Sch’ma ist ein Bekenntnis des Glaubens, ein
Treuegelöbnis gegenüber dem Einen Gott, eine Be -
kräftigung des Judentums. Es ist das erste ›Ge bet‹,
das den Kindern gelehrt wird. Es ist die letzte Äußerung
der Märtyrer. Es wird gesprochen, wenn
man sich am Morgen erhebt und in der Nacht
sich niederlegt, um zu schlafen.