War Noah ein frommer Mann? Einige Bemerkungen zur biblischen Noahgeschichte, zu entsprechenden Kommentaren von Elie Wiesel und Raschi

Autor/innen

  • Wilhelm Schwendemann

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.636

Abstract

1 Einleitung
In der ersten Einleitung (Gen 6,5-8; V 9 bereits
die zweite Einleitung) zur biblischen Noahgeschichte
(Gen 6-9) kann man in der neuen Luther-
Übersetzung (= Lut 2017)2 Folgendes lesen:
(Gen 6,5) Als aber der HERR sah, dass
der Menschen Bosheit groß war auf Erden
und alles Dichten und Trachten ihres
Herzens nur böse war immerdar,
(6) da reute es den HERRN, dass er
die Menschen gemacht hatte auf Erden,
und es bekümmerte ihn in seinem Herzen,
(7) und er sprach: Ich will die Menschen,
die ich geschaffen habe, vertilgen von
der Erde, vom Menschen an bis hin
zum Vieh und bis zum Gewürm und bis
zu den Vögeln unter dem Himmel; denn
es reut mich, dass ich sie gemacht habe.
(8) Aber Noah fand Gnade vor dem HERRN.
(9) Dies ist die Geschichte von Noahs
Geschlecht. Noah war ein frommer Mann
und ohne Tadel zu seinen Zeiten;
er wandelte mit Gott.
Die Geschichte von der Sintflut ist auch für
den modernen Menschen schwer verdaulich, provoziert
sie doch ein Gottesbild, das sich querlegt
und verstört. Die biblische Erzählung mutet uns
eine als grausam empfundene Geschichte zu und
konfrontiert uns mit unseren eigenen Gewalteinstellungen
und Gewaltphantasien. Daran wird
deutlich, es kommt darauf an, in welchem Kontext
bestimmte Bibelstellen gelesen werden, und
es gibt keinen objektiven Kontext, in dem man
die Bibel sozusagen ohne Voreinstellung liest. Die
biblischen Autoren und Autorinnen, aber auch
die Rezipierenden stellten sich in ihren Erfahrungen
mit Gott die Frage, wo Gott zu finden sei oder
noch spezieller, in welchem Ereignis wir es mit
wel cher Seite Gottes zu tun haben. In unserem
weichgespülten Denken, das gänzlich unbeleckt
von den Erfahrungen biblischer Autor_innenschaft
ist, haben wir uns angewöhnt, Gott stets auf ein
nach unseren Maßstäben liebliches Verhalten festzulegen
oder noch schlimmer, einen neutestamentlichen
Gott der Liebe gegen einen rächen -
den, strafenden, richtenden Gott des Ersten Testaments
auszuspielen. Wer mit dieser hermeneutischen
Brille an Bibeltexte herangeht, verrät den
Text, verrät die Autoren und Autorinnen und verrät
sich selbst, weil dann Bibeltexte nur vernutzt
werden zur eigenen ideologischen Rechtfertigung.
Mit welchem Gott haben wir es in biblischen
Texten zu tun? »Ist es ein Gott, der grausam zuschaut,
der ins Leben ruft, um es zu zerstören,
sei es aus kalter Gleichgültigkeit, sei es aus heißer
Lust am Leiden? Dann schon lieber das gottlose
kalte Universum mit seiner diesbezüglich absichtslosen
Evolution. Und wenn er liebt, liebt er
dann nur ein wenig, liebt er dann nur unter ganz
bestimmten Bedingungen, gewissermaßen, wenn
wir brav sind? Jedes Wenn-Dann kann die Einbruchstelle
von Gewalt werden, wenn die Bedingungen
und ihre Erfüllungen erzwungen sind.«3
Wenn wir beispielsweise das Ende der Sintflutgeschichte
lesen, wenn Gott seinen Regenbogen
spannt und sein Versprechen für die Zukunft abgibt,
dass es hinfort keine Sintflut mehr geben werde,
unterstellen wir gern, dass Gott etwas über
seine Geschöpfe dazugelernt habe, nämlich dass Gewalt- und Vernichtungsanwendung beim Menschen
keine Lernprozesse auslösen und dass Gott
eben das gelernt habe (Gen 9,11).4 Und was soll
dann noch die Notiz vom frommen Noah in der
Luther-Übersetzung? Heißt hier Frömmigkeit widerspruchslose
Akzeptanz eines grausamen Bildes
der Gottheit?
Im Folgenden will ich versuchen, ein wenig
Klarheit in die oben genannte Stelle zu bekommen,
um im Gespräch mit Raschi und Elie Wiesel
einen weiten Blick auf die Geschichte Noahs innerhalb
der Sintflutgeschichte zu erhalten.
2 Noah in der Bibel
In der Noahgeschichte fallen zwei Einleitungen
auf: Gen 6,5-8 und danach die Einleitung durch
eine Toledot, ein Geschlechtsregister (6,9).5 Seebass
übersetzt: Dies ist Noahs Geschich te. Noah
war ein loyaler Mann, verläßlich war er in seinen
Generationen geworden. Mit Gott hatte Noah
sein Leben geführt.6 Nach der Flut existiert also
eine neue Menschheit, die Sintflutgeschichte ist
also keine Vernichtungsgeschichte, sondern stellt
den Beginn einer Ursprungsgeschichte dar, was
eben auch durch den Begriff Toledot (Gen 6,9)
belegt wird.7 Diese Genealogien sind in der Genesis
immer dann als Gliederungsmerkmal durch
den Stoff der Genesis zu finden, wenn die gute
Schöpfung Gottes existenziell bedroht ist und
Gott von sich aus einen Neuanfang bzw. eine Lösung
finden muss. Auch Benno Jacob 8 lässt mit
Gen 6,9 eine neue Geschichte beginnen9 (bis
9,29), so wäre Gen 6,5-8 eine Art Schlusswort
des Vorangegangen oder eine Übergangsgeschichte.
10 Die Sintflutgeschichte besteht demnach aus
zwei Geschichten:11
A 6,5-8 und 8,20-22.
B 6,9 und 9,1-7.
Gen 6,5-8 und 9,1-7 legen den Rahmen fest;
das Flutgeschehen lässt sich nach Gen 6,9 als Geschichte
Noahs verstehen, wobei Gen 6,6-8 eine
Art Kontrastgeschichte darstellt. In Gen 6,9 tritt
der für die ganze Menschheit stellvertretend Gerettete
der Bosheit der Menschen in Gen 6,5-8
gegenüber: Noah.12
Die Flutgeschichte stellt in Folge dann so et -
was wie eine Rettungsgeschichte dar. Die Sintflutgeschichte
selbst, also die Vernichtung, ist stumm
erzählt und macht schon in der hebräischen Wort -
wahl deutlich, dass es hier um ein tödliches Schweigen
geht. Die Flut ist ein stummes, sprachloses
Ge schehen, das absolute Beziehungslosigkeit sym -
bolisiert.

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Veröffentlicht

2021-01-23