Die Pädagogik Elie Wiesels: uns menschlicher machen

Autor/innen

  • Joseph A. Kanofsky

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.639

Abstract

Die Pädagogik Elie Wiesels lässt sich nicht nur
in seinen Schriften, sondern besonders auch in
seiner Lehre an der Universität entdecken. Schüsselelemente
seiner pädagogischen Methode, so
wie sie in seinen Seminaren an der Boston University
seit den 1980er Jahren wahrgenommen werden
konnte, liefern hilfreiche Einsichten dazu, wie
ein säkular geprägtes Seminar auf tief verwurzelte
religiöse Elemente zurückgreift, um Studierenden
zu ermöglichen, ihr Potenzial als menschliche We -
sen wahrzunehmen – unabhängig von den Unterschieden
ihres religiösen Hintergrunds und ihrer
religiösen Vorlieben.
Jede dieser Strategien (und die Aufzählung ist
keinesfalls erschöpfend) beruht auf der eigenen
religiösen und kulturell-religiösen Erfahrung Elie
Wiesels und wandelt sich von einem religiösen in
ein säkulares Element. Dennoch lässt es spirituelle
Empfindungen bei Studierenden entstehen, die dafür
offen und bereit sind, sich auf diese Ebene einzulassen.
Das Erstaunlichste dabei ist: Obwohl
Wiesels eigene Erfahrung und Identität tief im Judentum
verwurzelt waren, fand seine Lehre Resonanz
bei Studierenden mit sehr unterschiedlichem
religiösen Hintergrund, ebenso bei solchen
ohne oder mit nur schwach ausgeprägter religiöser
Zugehörigkeit, ja selbst dann, wenn es keinerlei
entsprechende Bindung gab.
Im Folgenden möchte ich mich kurz mit vier
Elementen der Pädagogik Elie Wiesels befassen: der
Bedeutung der persönlichen Begegnung, dem Fragen
und Diskutieren als Forschungsmethode, dem
Gewicht von Geschichten und schließlich der paradoxen
Wirkung, die Wiesels tief verwurzelte jüdische
Identität und sein Selbstverständnis auf sein
pädagogisches Engagement als Lehrer der Geisteswissenschaften
hatten.
1 Begegnung
Elie Wiesel lehrte unter anderem am City College
von New York, an der Universität Yale und
am Eckerd College, seine längste Lehrtätigkeit
war allerdings die als Andrew W. Mellon-Professor
in the Humanities an der Boston University.
Wiesel begann seine Lehrtätigkeit in Boston
im Jahr 1976 und lehrte bis 2011. In vielen dieser
Studienjahre hielt er zwei Lehrveranstaltungen,
die mit Literatur der Erinnerung betitelt waren
und im Untertitel auf spezifische Inhalte verwiesen.
Diese Seminare mit eingeschränktem Teilnehmerkreis
waren an der Boston University in verschiedenen
Studiengängen angesiedelt: als Kurse
an der Philosophischen Fakultät (Liberal Arts) für
fortgeschrittene Studenten vor dem Abschlussexamen,
als Kurse an der Theologischen Fakultät
(School of Theology) und im Bereich der sog.
University Professors Program courses. Diese vielfältige
Zuordnung machte es möglich, dass Studierende
eines Verbunds von theologischen Ausbildungsstätten
vor Ort, darunter Harvard Divinity,
Episcopal Divinity und Andover-Newton,
die Lehrveranstaltungen Elie Wiesels belegen konnten.
Unter den Studenten Wiesels waren Laien
und Ordinierte, Juden, Katholiken, Protestanten,
Hindus, Buddhisten und vermutlich nicht wenige
Agnostiker.
Wiesel selber lehnte es ab, sich irgendeiner
der Hauptströmungen des amerikanischen Judentums
zuzuordnen – er war zwar Mitglied einer
orthodoxen Synagogengemeinde, bekannte sich
aber weder zum Reformjudentum, noch zur konservativen,
orthodoxen oder zur »rekonstruktionistischen« Strömung. Dagegen hängte er sich mit Stolz den Mantel des Chassiden um. Das traf in
mehrfacher Hinsicht zu. Durch seine Herkunft
und die Erziehung in mütterlicher Linie war er ein
Nachfahre der volkstümlichen, mystischen, erfahrungsbezogenen
und bisweilen selbst den Gedanken
der Wiedergeburt einschließenden Bewegung
im osteuropäischen Judentum des 18. Jahrhunderts,
die die innere Haltung, Frömmigkeit,
Güte und Aufrichtigkeit zu erstrangigen religiösen
Ausdrucksformen erhob; gleichzeitig hielt sie die
Loyalität zur religiösen Praxis aufrecht und widmete
sich ihr sogar mit größerer Intensität.
Wiesel ließ oft die Lieder und Geschichten lebendig
werden, die ihm sein Großvater mütterlicherseits
beigebracht hatte, ein angesehener
Chassid aus einer Untergruppe der Wiznitzer Bewegung.
In einer späteren Lebensphase nahm er
für sich die fortdauernde Identität als Wiznitzer
Chassid in Anspruch und fügte hinzu, »…aber
der Lubavitcher Rebbe ist mein Rebbe«.
(Ein Rebbe ist der charismatische Führer einer
chassidischen Gemeinschaft, oft durch die geographische
Herkunft der Gruppe identifiziert. Die
Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft kann ebenfalls
geographisch oder kulturell bestimmt sein.
Dagegen studieren die Anhänger eines bestimmten
Rebbes die Lehre dieses besonderen Rebbe.
Ihr religiöses Leben ist eine Resonanz der besonderen
Vorgaben, des speziellen Rhythmus, die
dieser jeweilige Rebbe verkörpert.)
Man kann die zentrale Bedeutung der persönlichen
Begegnung in dem chassidischen Modell
von Führung, für das der Rebbe steht, nicht hoch
genug einschätzen. Man hat ihn als »spirituellen
Ratgeber« (Zalman Schacter), als mystischen Wundertäter
(satirisch dargestellt in I.J. Singers Yoshe
Kalb), als charismatischen Vermittler zu Gott beschreiben,
der selbst über das Grab hinaus Zauberei
erleichtern kann (Nachman von Bratzlaw), sogar
als exemplarisches Vorbild des Gelehrten
(Schneur Zalman von Liadi). Die Begegnung von
Angesicht zu Angesicht zwischen Chassid und
Rebbe, zwischen Anhänger bzw. Jünger und spirituell-
religiösem Führer, ist in der chassidischen
Weltsicht entscheidend. Sie kann extrem kurz
sein, sich aber auch über ein ganzes Leben erstrecken.
Sie kann höchst persönliche Ratschläge und
Führung in spirituellen, aber auch weltlichen Angelegenheiten
umfassen.

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Veröffentlicht

2021-01-23