Rezension zu: Wiesel, Elie (2012): Mit offenem Herzen. Ein Bericht zwischen Leben und Tod, Herder, Freiburg, 95 Seiten.
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.648Abstract
In diesem auf erschütternde Weise intimen Buch
gewährt Elie Wiesel seinen Lesern einen ungewöhnlichen
Einblick in die tiefsten Quellen seiner Vision und
seiner Arbeit.
Indem Wiesel sensibel seine Erfahrung einer akuten
Erkrankung und seine schmerzliche Konfrontation
mit der eigenen Sterblichkeit skizziert, lässt er die Personen,
Orte und Ereignisse Revue passieren, die seine
Identität als Ehemann, Vater, Schriftsteller, Lehrer und
Mensch geprägt haben. Zusammen genommen ergeben
sie ein klares Mosaik, das sein Pflichtgefühl und
seinen unerschütterlichen Glaube an das Gute im Menschen
bis zu seinem Tod im Juli 2016 zu prägen vermochte.
Insofern ist das Buch das Vermächtnis Elie
Wiesels.
Die kleine Schrift beginnt damit, dass Wiesel erfahren
muss, bei ihm sei kurzfristig ein operativer Eingriff
am offenen Herzen notwendig. Die Präsenz seiner Ehefrau
Marion und seines Sohnes Elisha am Krankenbett
vor und nach der Operation bildet den Rahmen für das
Buch, und dieses Porträt seiner vorrangigen Beziehungen
führt dann ins Zentrum des Bandes, nämlich der
Lebensbilanz, zu der ihn diese Krise nötigt.
Wir erfahren, dass Wiesel Angst hat. Diese Angst
zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: im Bewusstwerden
all dessen, was noch nicht erledigt ist, in seinem
Wunsch, bei den Menschen zu bleiben, die er liebt und
in seiner Furcht angesichts des großen Unbekannten
namens Tod. In diesem Kontext beginnt Wiesel sein
Nachdenken, allerdings anders, als er es bisher gewohnt
war. Das Bewusstsein der Dringlichkeit war ihm
fremd.
Die Innenschau des Bandes entfaltet sich im Dämmerzustand
vor der Operation und beim Aufwachen
nach dem Eingriff. Bei beiden Gelegenheiten wird Wiesel
wieder einmal von der Erinnerung überflutet. Er
macht Inventur. Wiesel richtet den Blick auf seine Ehefrau
Marion Wiesel, seinen Sohn Elisha Wiesel und die
zwei jungen Enkelkinder; dabei erkennt er seiner Familie
das Verdienst zu, für die Kraft und für den Raum
gesorgt zu haben, die für seine humanitäre Arbeit viele
Jahre hindurch notwendig gewesen seien. Wir erfahren,
dass Wiesels Heirat mit Marion und ihre Entscheidung,
miteinander eine Familie zu gründen, seine
Antwort auf die Aufforderung angesichts von Auschwitz
gewesen ist, »das Leben zu wählen«.
Auch die Toten, die für Wiesel nie weit weg waren,
kommen näher: Familienmitglieder, spirituelle Lehrer
und Meister, die ebenfalls schon lange verstorben sind,
Freunde, die ihm einst Trost gespendet haben – sie alle
werden wieder präsent. Die Gegenwart der Toten, die
Nähe zu allem Vergangenen, fordern Wiesel dazu heraus,
eine Bilanz seiner Arbeit zu ziehen. Hier bekommen
diese frühesten Einflüsse eine neue Klarheit. Hat
er der Erinnerung an sie die Treue bewahrt? Hat er
alles getan, zu dem er im Stande war? Er fürchtet, dass
dem nicht so ist.
Wiesels Überlegungen kommen nicht ohne Bilder
des für ihn entscheidenden Ereignisses und der vielen
nachfolgenden Ereignisse aus. Auschwitz kehrt zurück,
wie auch die Gegenwart der Toten zurückgekehrt ist.