Rezension zu: Anderson, Ingrid L. (2016): Ethics and suffering since the Holocaust Making ethics »first philosophy« in Levinas, Wiesel and Rubenstein Routledge, New York, 185 Seiten.

Autor/innen

  • Reinhold Boschki

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.651

Abstract

Die theologische, geistige und geistliche Auseinandersetzung
mit dem Holocaust begann schon in den Todeslagern.
Rabbiner, Gelehrte, Fromme, Chassidim,
Philosophen, Künstler, Schriftsteller – für viele der Deportierten
wurde die Tatsache der von den Nazis ins
Werk gesetzten Vernichtung zum Problem bezogen auf
ihre eigene Tradition. Umso mehr haben nach 1945
Überlebende die Überlieferung des Judentums nach
Gründen und Hintergründen befragt und die Möglichkeiten
des Weitermachens, besonders des Weiterglaubens
ausgelotet. Dabei haben sie die unterschiedlichsten
Konsequenzen aus ihrer Erfahrung gezogen. Beispielsweise
sagte der aus Karlsruhe stammen-de Überlebende
Paul Niedermann einmal, er habe, nachdem er
von der Ermordung seiner jüdischen Eltern erfahren
habe, seinen Glauben abgestreift wie einen Mantel,
den man ablegt. Neben den theologischen Folgen der
Katastrophe wurden in den Nachkriegsjahren insbesondere
die ethischen betont.
Ingrid L. Anderson, Wissenschaftliche Assistentin am
Elie Wiesel Center for Judaic Studies an der Boston University,
hat in ihrem bemerkenswerten Buch drei der
bedeutendsten Reaktionen auf den Holocaust analysiert
und im Blick auf die Möglichkeit einer Ethik nach
Auschwitz befragt. Ihre Ausgangsfrage lautet: Lassen
sich aus Leiden ethische Konsequenzen ziehen – und
wenn ja, welche?
Die Antworten der drei behandelten Denker, Emanuel
Lévinas, Elie Wiesel und Richard L. Rubenstein,
könnten unterschiedlicher kaum sein – auch ihre Biografien.
Anders als Wiesel war Lévinas nicht in den Todeslagern,
sondern kam als französischer Soldat in
deutsche Kriegsgefangenschaft. Seine Frau und Tochter
überlebten versteckt in einem Kloster, allerdings wurde
fast seine ganze jüdische Herkunftsfamilie in Litauen
von den Nazis ermordet. Rubenstein wuchs in den USA
auf und war zunächst Gemeinderabbiner, später Hochschullehrer.
Für alle drei wurde der Holocaust ein – bei
Lévinas zwar versteckter – Zentralpunkt ihres Schaffens.
Anderson kontextualisiert das jüdische Denken in
Bezug auf die Ethik nach dem Zweiten Weltkrieg auf
profunde und kenntnisreiche Weise in der geistigen Situation
zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die philosophische
Landschaft, so arbeitet sie heraus (S. 15 – 52), war
in der Gefahr, gegenaufklärerisch zu werden, was im
Denken Heideggers zum Ausdruck kam. Bei dem berühmten
Dialog zwischen Martin Heidegger und dem
jüdischen Denker Ernst Cassirer 1929 in Davos war
der junge Emanuel Lévinas zugegen. Er kam zur Überzeugung,
dass die abendländische Philosophie der damaligen
Zeit sich gegen Totalitarismus und die Gefahr
des Barbarismus nicht genug abgesichert hatte. Grund
war, wie er nach dem Krieg in seiner ethischen Philosophie
entwickelte, dass westliches Denken zu sehr auf
der Ontologie aufruhte und sich zu wenig auf die Ethik
konzentrierte. Für Heidegger war die Ethik »relativ«
(S. 34). Das Werk Lévinas’ hingegen kann als Gegenentwurf
dazu verstanden werden (S. 53 – 87).

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Veröffentlicht

2021-01-23