Rezension zu: Nussbaum, Martha (2014): Die neue religiöse Intoleranz Ein Ausweg aus der Politik der Angst (aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus von Palézieux), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 220 Seiten.

Autor/innen

  • Wilhelm Schwendemann

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.655

Abstract

Das Buch gliedert sich wie folgt:
Vorwort
1. Religion: Zeit der Angst und der Verdächtigung
2. Angst: Ein narzisstisches Gefühl
3. Grundprinzipien:
Gleicher Respekt für das Gewissen
4. Der Splitter im Auge meines Bruders:
Unparteilichkeit und das selbsterforschte Leben
5. Innere Augen:
Respekt und mitfühlende Phantasie
6. Der Fall Park 51
7. Wie man die Politik der Angst überwindet
Martha Nussbaum hat mit diesem Buch einen wichtigen
Beitrag gegen eine religiös aufgeheizte Atmosphäre
einer Politik der Angst geschrieben, obwohl es auch
um die Fremdheit der Religionen in modernen Zivilgesellschaften
geht. Sie diskutiert die Fremdheit der Religion
vor allem am Beispiel des Islam in der gegenwärtigen
amerikanischen Gesellschaft. Ihr Plädoyer gilt zuallererst
dem Respekt Fremden gegenüber und für Religionsfreiheit
in einer Ethik der Höflichkeit und des Anstandes,
was in der gegenwärtigen gesellschaftlichen
Situation unter Präsident Donald Trump klare politische
und religiöse Signale setzt.
Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin
für Rechtswissenschaften und Ethik an der University
of Chicago und gilt als eine der wichtigsten amerikanischen
Philosophinnen der Gegenwart.
Ad Vorwort
Anlass des Buches war ein Artikel für den Online Kommentar
der New York Times über ein geplantes europäisches
Burka-Verbot für muslimische Frauen, worauf
sie 700 Kommentare von Leser_innen erhielt. Sich daraus
entwickelnde Thesen zum Thema Religiöse Toleranz
als Work- in-progress-Workshop wurden innerhalb
der University of Chicago Law School diskutiert. Das
Buch ist Arnold Jacob Wolf gewidmet, »der ein Gigant
des amerikanischen Reformjudentums wie auch in meinem
religiösen Leben war«, wie Nussbaum schreiben
kann (S. 9). Die Botschaft Wolfs war ein unbedingtes
Eintreten für religiöse Toleranz und soziale Gerechtigkeit:
»Erkenne dich selbst, damit du aus dir heraustreten
kannst; diene der Gerechtigkeit und fördere den
Frieden.« (S. 11)
Ad 1
Die amerikanische Gesellschaft hielt sich vor einiger
Zeit noch für tolerant, und religiöse Gewalt wurde woanders
in der Welt verortet. Die Vereinigten Staaten von
Amerika galten im allgemeinen Bewusstsein als offen
gegenüber religiösen Minderheiten, die in dieser Gesellschaft
Zuflucht gefunden haben (S. 12). Selbstverständlich
gab es auch in diesem Zustand der amerikanischen
Gesellschaft religiöse Vorurteile und Ängste, wie z. B.
Antikatholizismus und Antisemitismus. Nussbaum
mahnt angesichts dieser Einschätzung zu Demut und
Bescheidenheit (S. 13). Sie schreibt: »Unsere Situation
schreit geradezu nach kritischer Selbstreflexion, sofern wir die Wurzeln der schlimmen Ängste und Verdächtigungen
freilegen wollen, die gegenwärtig alle westlichen
Gesellschaften entstellen.« (S. 13)
Anlass für Martha Nussbaum, für religiöse Toleranz
und Klärung von Ängsten einzutreten, war die Diskussion
über das Burka-Verbot in Frankreich, Belgien, Italien
und in der Schweiz. Nussbaum unterstellt hier
irrationale Ängste vor einer »muslimischen Überfremdung
« und zeigt an einigen europäischen Beispielen,
welche Blüten die Angst vor einer fremden Religion
treiben kann. Zudem werden von ihr reale Diskriminierungen
muslimischer kopftuchtragender Frauen fokussiert
(S. 15). Die Autorin stellt zudem fest, dass auch
in der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft eine Spannung
zwischen religiöser Toleranz und gewalttätiger
Vorurteile und Handlungen existiere (S. 16). An der
Spitze stünden hier Aktionen gegen Muslime, die von
Nussbaum an mehreren auffallenden Beispielen illustriert
und belegt werden: »In der Tat gibt es handfeste
Beweise dafür, dass in den USA die Vorurteile gegenüber
den Musliminnen ansteigen.« (S. 21) Diese Entwicklungen
in der amerikanischen und in den europäischen
Gesellschaften irritieren und zeigen, dass religiöse
Ängste zunehmen und der entsprechende (fast illusorische)
Wunsch nach Homogenität einer Gesellschaft.
Nussbaum bezweifelt, dass es je überhaupt eine homogene
Gesellschaft und nationale Identität gegeben haben
(S. 23). Die Autorin versucht nun, den in diesem
Kapitel beschriebenen Ängsten auf die Spur zu kommen,
um sie zu verstehen und ihr mit philosophischer
Resilienz zu begegnen. (S. 26)
Ad 2
Die Grundthese des Kapitels bezüglich der Funktion
menschlicher Angst lautet: »Ohne Angst wären wir
schon alle tot.« (S. 27) Angst helfe, sich vor wirklichen
Gefahren an Leib und Leben zu schützen; ebenso könne
die Angst aber instrumentalisiert werden, um »Aggressionen
gegen unbeliebte Gruppen zu schüren.« (S. 27)
Mit Angst umzugehen, bedeutet für Nussbaum zuallererst
aber den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen
zu beachten. Die Instrumentalisierung der Ängste
diente dazu, z. B. Juden auszugrenzen und für bestimmte
wirtschaftliche oder soziale Probleme verantwortlich
zu machen (S. 29) oder als versteckte Böse zu
charakterisieren: »Wie einfach ist es also, in die Märchenfalle
zu geraten und sich vorzustellen, das, was
man fürchtet, könnte man leicht einer einzigen Gruppe
zuschreiben, die ohnehin schon unbeliebt ist, deren
Unterschiede in Religion und Kleidung sie längst als
mögliche verdächtige ausgemacht hatten...« (S. 31).
Im folgenden Abschnitt stellt Martha Nussbaum
dann die biologischen Grundlagen der Angst innerhalb
der Gehirnregion Amygdala dar, in der die Funktion der
Angst als kurzfristiger emotionaler Schutz zu sehen sei
und keineswegs als Leitfaden einer Entscheidungsfindung
diene (S. 33): »Angst allein lässt den Geist zusammenschrumpfen.
« (S. 34) Angst sei jedoch mit einem
mit einem wahrgenommenen Kontrollverlust verbunden,
was in den Bereich des biologischen Überlebens
und Gesundheit hineinreiche (S. 35). Rationalen Umgang
mit besonderen Situationen diskutiere Aristoteles,
den Nussbaum an dieser Stelle kritisch würdigt. Aristoteles
entwickle in der Nikomachischen Ethik eine
Tugendmatrix als Handlungsoption gegen die Angst (S.
37). Schlussfolgernd warnt Nussbaum davor, Ängsten
bei mutmaßlicher Bedrohung nachzugeben oder wenn
Alltagsroutinen überraschend unterbrochen würden.
Angst sei auch der Impuls, wenn z. B. Mutmaßungen
über angenommene Gefahren die Informationsbasis
übersteigen, es zu sogenannten psychischen Kaskaden
kommen zu lassen, die dann wieder als Konfigurationsmaterial
ethischer oder religiöser Identität wirkten, um
uns von anderen ethischen Maßstäben oder religiösen
Gruppen abzugrenzen (S. 39). Sie schreibt: »Vieles
kommt zusammen, wenn die muslimische Burka gefürchtet
wird, und wir sollten zumindest die Neigung
des menschlichen Geistes bedenken, sich unaussprechliche
Schrecken und Verderben den verschiedenen
Arten von verhüllender Kleidung auszudenken.« (S. 41)
Burka- und Minarettverbot in der Schweiz werden von
Nussbaum als sog. mutmaßliche Sicherheitsbedrohungen
eingestuft, d.h. als Phantasieprodukt bzw. als Vorstellung
eines verborgenen Feindes (S. 48).

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Veröffentlicht

2021-01-23