Rezension zu: Bauman, Zygmunt (2016): Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache Edition Suhrkamp Sonderdruck, Berlin 125 Seiten.
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.656Abstract
Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman
hat vor seinem Tod (9.1.2017) noch ein prophetisches
Buch veröffentlicht, das die westlichen Gesellschaften
an deren vielbeschworenen Werte erinnert und auch an
den populistischen Missbrauch dieser Werte im Sinne
von gesellschaftlichem Egoismus und Rücksichtslosigkeit.
Für Bauman ist der Begriff Migrationskrise vor
allem ein Deckname im Kampf der populistischen Meinungsmacher
(S. 7) und auch für den moralischen Gegenbegriff
Migrationspanik. Mit Flüchtlingen wie mit heißen
Kartoffeln umzugehen, sei zutiefst unmoralisch (S. 8),
kennzeichne aber einen bestimmten Politikstil in bestimmten
europäischen Staaten und auch neuerdings in den USA. Die jetzige Migration mache zuerst auf
eine politische Destabilisierung des Nahen und Mittleren
Ostens aufmerksam, an der der Westen mitgewirkt
habe, aber zugleich auch auf einen Zustand europäischer
Gesellschaften, in denen viele in einem prekären
sozialen Zustand lebten. Die meisten Flüchtlinge kommen
aber aus »gescheiterten Staaten oder – in jeder
Hinsicht – Staaten – und damit gesetzloser Territorien:
Schauplätzen endloser Kriege zwischen Stämmen und
Religionsgruppen, unzähliger Massenmorde, völliger Gesetzlosigkeit
und ständiger Ausraubung.« (S. 11) Diese
Migrant_innen seien auf der Suche nach einem annehmbaren
Lebensstandard, was moralisch keineswegs
verwerflich sei (S. 13). Für die Einheimischen seien die
Migrant_innen aber zuerst einmal Fremde, die Ängste
auslösen, weil sie fremd seien. Die Polarität zwischen
Fremdem und Feind sei unübersehbar und der Fremde
uneinschätzbar.
Die jeweilige Einwanderungsgesellschaft sei geprägt
von Mixophilie (»eine Vorliebe für vielfältige, heterogene
Umgebungen, die unbekannte und unerfasste
Erfahrungen ermöglichen und daher die Freuden des
Abenteuers und der Entdeckung versprechen«) (S. 14)
und der Mixophobie (»die Angst vor einem nicht beherrschbaren
Ausmaß an Unbekanntem, nicht zu Bändigendem,
Beunruhigendem und Unkontrollierbarem
«) (S. 15). Feindselige Gefühle gegenüber Migrant_
innen laden zur Gewalt ein: »Sie leben in Armut,
Elend und Verachtung inmitten einer Gesellschaft, die
sie auszustoßen trachtet und sich zugleich der Großartigkeit
ihres unvergleichlichen Komforts und Reichtums
rühmt.« (S. 17) Bauman thematisiert in diesem Zusammenhang
das Problem der Selbstachtung bzw. das der
Selbstzerstörung auf beiden Seiten (S. 19), denn den
Migrant_innen wird in dieser Perspektive die Schuld
an existenzieller Unsicherheit zugeschoben (S. 21),
woraus populistische Politiker_innen Kapital schlagen.
Bauman warnt vor einer Politik der Abschottung;
der Ausweg heiße nicht Abschottung, sondern Solidarität.
Das Streben nach Sicherheit hat nach Bauman
einen gegenteiligen Effekt, weil es nicht mehr um die
Klärung von Ursachen gehe, sondern um Macht und
Zustimmung bei den nächsten Wahlen (S. 31). Der
Aufruf, gegen Terrorismus zusammenzustehen, hebe
zwar die Selbstachtung einer Nation (S. 37), treffe aber
diejenigen, deren Lebensaussichten sowieso schon prekär
sind und denen der Entzug öffentlicher Anerkennung
und Verlust der Selbstachtung drohen. Wenn Migrant_
innen erst einmal dem Terrorismus zugeordnet
seien, stünden sie außerhalb moralischer Verantwortung
und sozialer Fürsorge (S. 38). Gerade die Ausgrenzung
muslimischer Migrant_innen fördere so die Ziele
verschiedener Terrororganisationen; einher gehe diese
Tendenz mit der Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen
(S. 43). Der Autor kritisiert schonungslos den
jetzigen US-Präsidenten Donald Trump: »Auf die Allmacht
eines starken Mannes zu vertrauen, ..., sei ein
»Wunschtraum«, und dass Trump dieses Vertrauen gewinne,
beruhe auf einem »Taschenspielertrick«.« (S. 51)
Die Optionen seien, entweder für einen starken Mann/
eine starke Frau zu stimmen oder für ein starkes Volk
(S. 52). Bauman argumentiert im Folgenden mit Michail
Bachtins Annahme einer »kosmischen Angst«, die
durch die Herrschenden in offizielle Angst verwandelt
werden würde (S. 53) und zwar so, dass die daraus folgenden
Regeln und Gebote Antworten offerierten, »damit
keine Fragen mehr gestellt werden sollten« (S. 54).
Aus einer fernen Bedrohung werde so eine erfundene
Forderung, die praktikabel erscheine (S. 54); auch religiöse
Systeme gehorchten nach Bachtin dieser Reduktion
von Komplexität (S. 55). Aber, so gibt Bauman in
Bezug auf moderne Zivilgesellschaften zu bedenken, dass
diese Reduktionen voller Risiken steckten, aber gleichzeitig
keine Sicherheiten und Garantien böten (S. 57)
und zugleich mit Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen
verbunden seien, die den Einzelnen
völlig überforderten. Der einzelne Mensch werde Opfer
eines gigantischen Selbstausbeutungs- und Erschöpfungsprozesses
(S. 59). Die Angst vor dem eigenen Ungenügen
in einer leistungsorientierten Gesellschaft ersetze
die Angst vor Nichtkonformität (S. 60). Wem könne
man nicht besser die Schuld an diesen Wechseln zuschieben,
als dem Fremden? (S. 65)