Notruf 70. Rabbinisch-benediktinische Psalmen-Betrachtung
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01.519Abstract
Der formale Aufbau von Psalm 70 ist schnell
erfasst. Es handelt sich um eine A-B-C-B’-A‘-Struktur.
Der Symmetriepunkt des Chiasmus (X) liegt
nach Worten gezählt in der arithmetischen Mitte
des Psalms. Das 23. und 24. des 47 Wörter zählenden
Psalms lautet: »Ha! ha!« (»Heach Heach«,
C: V.4b). Die neue Einheitsübersetzung (2017)
gibt das spöttische Gelächter mit dem Zusatz »Ha,
dir geschieht recht« wieder und verstellt damit
die Grausamkeit des nonverbalen Ausgelachtwerdens,
das keiner weiteren Rechtfertigung bedarf.
Dieser Spott prallt aber nicht außen ab, er dringt ins
Innerste, in die Mitte des Psalms und des bedrängten
Beters vor, der ihn lautmalerisch prägnant
wiedergibt. Es ist das Lachen der Täter, das Klaus
Theweleit in seinem gleichnamigen Psychogramm
der Tötungslust so eindrucksvoll beschrieben
hat. 3
Gerahmt ist diese Mitte durch zwei Wünsche.
Zuerst durch die Verwünschung der Täter, die
dem Ich des Psalms nach dem Leben »trachten«
(B: V.3f.), sie mögen, so die einigermaßen feststehende
Formel (vgl. Ps 35,4), erbleichen, erröten,
erschrecken, im Boden versinken vor Scham, also
einmal selbst erfahren, was es heißt.
Sodann durch die Beglückwünschung derer,
die nach Gott »trachten«, die aller Verhöhnung
zum Trotz, seine Größe bekennen, die Liebhaber
seines Heils (B’: V.5). Am Eingang und Ausgang
des Psalms steht das, woran der Psalm für den
Notfall erinnert (V.1), an den Notruf nämlich:
»Gott eile mir zur Hilfe, rasch!« (A: V.2; A’: V.6).
Die folgende Übersetzung von Martin Buber
ist im Jahr 1935 in Berlin erschienen. 4
Des Chormeisters,
von Dawid, zum Gedenkenlassen.
Gott, mich zu erretten,
DU, zu meiner Hilfe eile!
Schämen sollen sich und erröten,
die nach der Seele mir trachten,
zurück prallen, zu Schimpfe werden,
die Lust haben an meinem Übel,
kehrtmachen zufolge ihrer Schande
die sprechen:
Ha! ha!
Entzücken sollen sich, sich freuen an dir
alle, die nach dir trachten,
stets sollen sprechen:
›Groß zeigt sich Gott! ‹,
die dein Befreien lieben.
Ich hier,
gebeugt und bedürftig, –
Gott, eile mir herbei!
Was mir hilft, was mich entrinnen macht
bist du:
DU, säume nimmer!
Das »Heach! Heach!«-Lachen, das war für den
Bibel-Übersetzer und seine jüdischen Leser im nationalsozialistischen
Deutschland alltägliche Erfahrung.
Obwohl die ohrenbetäubenden »Heil-
Hitler«-Rufe jede Hoffnung aussichtlos erscheinen
ließen, wählten die Juden wie immer schon ihren
Notruf: »Chuscha!«, »Chuscha!« (V. 2 u. V. 6); dem