Christlicher Antijudaismus als religiöse Form des Antisemitismus

Autor/innen

  • Klaus Müller

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i03.533

Abstract

Am 26. April 2001 schreibt die Evangelische
Kirche in Baden folgende Sätze in ihre Grundordnung:
»Die Evangelische Landeskirche in Baden will
im Glauben an Jesus Christus und im Gehorsam
ihm gegenüber festhalten, was sie mit der Judenheit
verbindet. Sie lebt aus der Verheißung, die
zuerst an Israel ergangen ist, und bezeugt Gottes
bleibende Erwählung Israels. Sie beugt sich unter
die Schuld der Christenheit am Leiden des jüdischen
Volkes und verurteilt alle Formen der Judenfeindlichkeit.
«
Solche Sätze verstehen sich nicht von selbst.
Ein weiter, weiter Weg durch die Jahrhunderte
musste gegangen werden, bis derlei Aussagen als
theologische Grundlagen der Kirchenverfassung
sozusagen ganz weit vorne verankert werden
konnten.
Die kirchliche Diktion im Blick auf das Judentum
klingt über 20 Jahrhunderte hinweg sehr anders.
Sie ist geprägt von einer Haltung, die wir als
theologisch motivierte Judenfeindschaft verstehen
können. Mit dem Begriff des Antijudaismus ist die
pauschale Ablehnung des Judentums aus überwiegend
christlich-religiösen Motiven bezeichnet.
Der Duden weist den Begriff des Antijudaismus
als traditionelle Form der Judenfeindschaft aus,
als »Vor- und Nebenform des Antisemitismus«3.
Antijudaismus durchzieht die Geschichte des
Christentums seit den Anfängen. Er begleitet die
Trennung des Christentums vom Judentum nach
der Tempelzerstörung im Jahr 70, seinen Aufstieg
zur Staatsreligion des Römischen Reiches im 4. Jahrhundert
und weiter durch die Zeiten hindurch.
Im nationalsozialistischen Judenhass schließlich
gipfelt eine für die Juden mörderische Instrumentalisierung
des kirchlichen Antijudaismus.
Die fatale Logik hinter der antijudaistischen
Haltung ist einfach: Dass die meisten Juden Jesus
Christus nicht als den Messias und Sohn Gottes
annehmen können, bedeutet für die frühe Kirche
so etwas wie die Infragestellung ihres Wahrheitsanspruchs.
Das schiere Dasein von Jüdinnen und
Juden, die an ihrem Glauben festzuhalten gedenken,
wird als Angriff auf das Christentum verstanden,
kam doch der Herr selbst aus dem Volk Israel
und wollte zeitlebens nirgendwo sonst wirken.
Jüdinnen und Juden wurden daher seit dem 4. Jahr -
hundert und den folgenden Jahrhunderten im
christlichen Europa rechtlich, sozial und ökonomisch
benachteiligt, ausgegrenzt und verfolgt,
vertrieben und vielfach ermordet. Dies wiederum
galt dem christlichen Verständnis als Beleg für die
Strafe oder den Fluch Gottes für die angebliche
Verstockung oder Gotteslästerung der Juden.

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Veröffentlicht

2021-01-22