Verschwörungsmythen. Warum der Antisemitismus nicht nur »irgendein« Rassismus ist

Autor/innen

  • Michael Blume

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i03.534

Abstract

Hinführung
Nachdem ich im November 2018 an einer
schulbezogenen Landesakademie in Bad Wildbad
einen Vortrag gehalten hatte, wandte sich die Holocaust-
Überlebende Sara Atzmon plötzlich mit
einer ebenso deutlichen wie vertrauensvollen Frage
an mich: »Sie sind doch Wissenschaftler, daher
will ich Sie fragen: Was haben wir Juden falsch
gemacht? Warum hassen uns so viele Menschen?
«
Die Mit-Diskutanten auf dem Podium und
auch die Menschen im Publikum verstummten.
Wie konnte eine Jüdin, die als 12-Jährige den von
deutschen und europäischen Nichtjuden betriebenen
Genozid des Holocaust, konkret das KZ
Bergen-Belsen, nur knapp überlebt und engste
Angehörige verloren hatte, annehmen, sie selbst
oder »die Juden« hätten etwas falsch gemacht?
Ich verstand ihre Frage jedoch in dreifacher
Hinsicht als sehr klug. Zum einen bestand Sara Atzmon
zu Recht auf einer Antwort, die ihr verstehen
helfen sollte, woher der abgrundtiefe Hass des
Antisemitismus stammte. Sie stieß uns auf eine
Frage, die Elie Wiesel so formuliert hatte:
»Wir haben die dunkle Seite des
Mondes erforscht, aber nicht
die dunkle Seite unseres Herzens.« 2
Und damit verbunden war eine zweite, sehr
scharfsinnige Beobachtung: Wenn ein erbitterter
Streit zwischen zwei Parteien beobachtet wird,
so gehen wir normalerweise davon aus, dass beide
Seiten am Entstehen des Konfliktes beteiligt
waren. Sprichworte wie »Zum Streiten gehören
immer zwei.« oder »Jede Medaille hat zwei Seiten.
« unterstreichen diese Grundannahme. Sara
Atzmon forderte durch ihre ebenso provokante
wie kluge Frage diese Alltagsweisheit heraus.
Und drittens lautet die – aus guten Gründen –
politisch korrekte Antwort auf jede Art von Rassismus,
dass sich die Angegriffenen den Angriff nicht
zu Eigen machen sollten. Menschen afrikanischer
Herkunft müssen sich nicht fragen lassen, warum
es in Afrika noch immer Armut, Konflikte und
Hexenverfolgungen gibt, Sinti und Roma müssen
sich die Lebensumstände in osteuropäischen Ländern
nicht zuschreiben lassen, und Jüdinnen und
Juden müssen sich nicht für Jahrtausende des Antisemitismus
verantwortlich fühlen.
Es ist vielmehr die Aufgabe von Wissenschaft
und Medien, überzeugende Antworten auf solche
Fragen zu finden, diese in die Öffentlichkeit zu vermitteln
und damit Rassismen aller Art entgegen
zu wirken. Sara Atzmon fragte mich – und zwar
konkret in meiner Perspektive als Religionswissenschaftler,
in der ich zuvor gesprochen hatte –
ob ich ihr zum Antisemitismus eine nachvollziehbare
Erklärung anzubieten hätte.

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Veröffentlicht

2021-01-22