»Ich glaube, dass Antisemitismus was ganz Altes ist.« - Eine qualitative Interviewforschung zur jüdischen Wahrnehmung von und dem Umgang mit Antisemitismus
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i03.539Abstract
Deutschland im Jahre 2018: Man möchte denken,
dass die zwei Jahrtausende andauernde Geschichte
der Judenfeindschaft über 70 Jahre nach
der Menschheitskatastrophe der Schoah endgültig
beendet sein müsste.
Dem ist nicht so – fast täglich wird von antisemitischen
Vorfällen in Deutschland berichtet. Die
Agitationen reichen von rechtspopulistischen Politiker_
innen, die sich im Zusammenhang mit der
Erinnerung an den Holocaust einer ambiguen semantischen
Ausdrucksweise bedienen und die Erinnerungskultur
kritisieren, über linke Politiker_innen,
die sich mit Israelgegnern solidarisieren und
sich dabei judenfeindlicher Narrative bedienen,
bis hin zu muslimischen Jugendlichen, die einen
Mitschüler über Monate hinweg drangsalieren,
weil er Jude ist. Die Aggressionen kommen aus
unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, und
auch die Artikulationsformen divergieren. Das
Feindbild der Juden bleibt jedoch bestehen.2
Die Beständigkeit von antisemitischen Einstellungen
und Verhaltensweisen in allen Teilen der
Gesellschaft – in einem Land, das für den Genozid
an den europäischen Juden verantwortlich ist –
veranlasste mich zu der Anfertigung meiner Forschungsarbeit.
Meine Intention war es nicht, den
zahlreichen Untersuchungen zum Antisemitismus
einen weiteren Erklärungsversuch hinzuzufügen.
Ich wollte mich stattdessen bewusst der
Perspektive der Betroffenen widmen.
Meine Forschungsfrage lautete daher: Welchen
Antisemitismus nehmen Juden in Deutschland
wahr und wie gehen sie damit um?
Zum Phänomen der Judenfeindschaft kann es
unterschiedliche Zugänge geben. In meiner Arbeit
wird es aus einem historischen Betrachtungswinkel
dargestellt. Um die modernen Artikulationsformen
von Antisemitismus verstehen und einordnen
zu können, ist es unerlässlich, sich mit seiner
langen Tradition auseinanderzusetzen. Viele gängige
Vorurteile und Stereotype, die aktuell mit
Juden – oft auch im Zusammenhang mit dem
Staat Israel – in Verbindung gebracht werden, sind
in der Antike und im Mittelalter entstanden, haben
sich in der Neuzeit und im 19. Jahrhundert
weiter tradiert und tauchten auch während und
nach dem Nationalsozialismus immer wieder auf.
Seit es Judenfeindschaft gibt, reagieren Juden
darauf. Es gab offenen Protest wie 1943 mit dem
Warschauer Ghettoaufstand.
Auch Assimilation spielte eine Rolle – zu Beginn
der NS-Herrschaft verstanden sich in Deutschland
viele Juden als patriotische Deutsche und
waren sogar teilweise zum Christentum konvertiert.
3
Es gibt zudem historische Beispiele von Verleugnung
oder Relativierung der sich verschlimmernden
Zustände, beispielsweise durch Juden,
die während der Weimarer Republik und dem aufkommenden
Nationalsozialismus den dieser Ideologie
inhärenten Antisemitismus verharmlosten.4
Das Reaktionsmuster des Erduldens wird oft
in Zusammenhang mit der größtenteils innerjüdischen
Debatte über das Verhalten während der
NS-Diktatur in Zusammenhang gebracht.