»Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch«. Einführung in Ich und Du von Martin Buber
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.558Abstract
1 Einleitung
Wie sehr wir auf Dialog und gegenseitiges Gespräch
angewiesen sind, hat sich am 17./18. März
2018 gezeigt, als die deutsche Bundeskanzlerin
Angela Merkel den amerikanischen Präsidenten
Do nald Trump getroffen hat. Vielleicht erinnern Sie
sich noch an die Bilder der verkrampften Gesprächsatmosphäre
anlässlich des Pressetermins.
Allein die Körperhaltung der beiden war schon
Spra che genug: So hatte man den Eindruck, es ge -
he beiden um ein Pflichtprotokoll; beide konnten
sich dem jeweils Anderen nicht zuwenden, nicht
öffnen – ein echtes Gespräch hat eine andere Atmosphäre
und auch eine andere Bereitschaft, miteinander
zu sprechen. Eine türkischstämmige Frau
erzählte mir kürzlich, dass sie sich in ihrer eigenen
Community nicht mehr traue, Kritisches ge -
gen den amtierenden türkischen Präsidenten
Erdo gan zu sagen – man fahre ihr verbal über den
Mund und sei nicht imstande, sie anzuhören oder
sich auf eine rationale Diskussion einzulassen.
Das sind wahllos herausgegriffene öffentliche
Beispiele für Vergegnung, wie Martin Buber dieses
nichtdialogische Verhalten bezeichnen würde.
In der Vergegnung werde man einander zum ›dämonischen‹
Du, ein echtes Gespräch sei nicht mehr
möglich, zwischen den Menschen würden Mauern
hochgezogen.
Martin Buber (1878 –1965) zählt zur Denkströmung
der philosophischen Dialogik oder auch
Dialogphilosophie, die nach dem Zweiten Weltkrieg
ihre Wirkung entfaltete, aber schon zwischen
den beiden Weltkriegen maßgebliche philosophische
Werke hervorgebracht hat. Zu nennen wären
neben Martin Bubers Ich und Du (1923) zum Bei -
spiel Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung
(1921), Ferdinand Ebners Das Wort und die geistigen
Realitäten (1921) oder auch Gabriel Marcels
Journal métaphysique (1927). Diesen Denkern
ist gemeinsam, dass sie der Begegnung, dem Anderen,
dem Ereignis und der Sprache einen bedeutenden
Sinn einräumen.
Die philosophische Denkströmung nimmt natürlich
Platons Darstellung des dialogischen Sokrates
auf, zielt aber auf eine existenzielle Neubestimmung
des Menschen.2 In den sokratischen
Dialogen wird das Den ken oder das Nachdenken
als »das innere Ge spräch der Seele mit sich selbst« 3
charakterisiert, was dann als Rede (Logos) den
spezifisch platonischen Prozess der Dialektik (die
Ermittlung von wahr und falsch durch Bejahung
und Verneinung, phasis und apophasis) in Gang
setzt. Die sog. Dialogiker_innen nehmen aber den
Dialog nicht nur als äußere Form oder als einen
Modus wahr, sondern zielen auf Dialog als Gespräch,
was von purer Kommunikation zu unterscheiden
wäre. Dialog ha be einen eigenen Sinnbestand
und sei ein wechselseitiges und gegenläufiges
Geschehen.4
Referenzrahmen der philosophischen Dialogik,
also der Wissenschaft des Dialogs, ist bei
Buber 5 und Rosenzweig eine Form jüdischen Gottesglaubens,
der als personaler Gottesglauben zu
definieren wäre. Gegen radikal konstruktivistische
Modelle oder Modelle idealistischer Seinsphilosophie [...].