»Einander im Geheimnis anerkennen.« Martin Bubers Angebot im Gespräch mit Christen

Autor/innen

  • Karl-Josef Kuschel

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.562

Abstract

Eine Autobiographie hat er nicht hinterlassen,
wohl aber ein schmales Bändchen mit autobiographischen
Fragmenten. Begegnung, so der Titel,
fünf Jahre vor seinem Tod 1960 noch veröffentlicht.
Und Begegnung ist ein Schlüsselwort seines
Lebens. Man versteht es besser vom Gegenwort
her, das Buber geprägt hat, als er im selben Band
die Beziehung von sich als Kind zu seiner Mutter
beschreibt.
Geboren 1878 in Wien, hatten die Eltern sich
früh getrennt. Buber ist zu diesem Zeitpunkt vier
Jahre alt und wächst ab jetzt bei seinen Großeltern
väterlicherseits im galizischen Lemberg auf,
das heute zur Ukraine gehört. Aber die Trennung
von der Mutter ist eine traumatische Wunde. Und
sie beginnt in dem Moment wieder zu brennen,
als das Kind einmal ein älteres Mädchen, das auf
ihn Acht zu geben hatte, das Wort sagen hört:
»Nein, sie kommt niemals zurück«, die Mutter des
kleinen Martin. »Niemals zurück«: das unbedachte
Wort bleibt in der Seele des Kindes haften, es
verhaftet sich, so Buber, »von Jahr zu Jahr immer
mehr in meinem Herzen«.
Und ein Wort bildet sich heraus, dass diese Erfahrung
zusammenfasst: »Später einmal habe ich
mir das Wort Vergegnung zurechtgemacht«, notiert
Buber, »womit etwa das Verfehlen einer wirklichen
Begegnung zwischen Menschen bezeichnet
war. Als ich nach Jahren meine Mutter wiedersah,
die aus der Ferne mich, meine Frau und
meine Kinder besuchen gekommen war, konnte
ich in ihre noch immer zum Erstaunen schönen
Augen nicht blicken, ohne irgendwoher das Wort
Vergegnung, als ein zu mir gesprochenes Wort,
zu vernehmen. Ich vermute, dass alles, was ich
im Laufe meines Lebens von der echten Begegnung
erfuhr, in jener Stunde seinen ersten Ursprung
hatte.« 3 In jener Stunde also, als dem Kindermädchen
das fatale Wort entfuhr.
In der Tat wird Buber später zu dem Philosophen
des Dialogs werden und uns wie kein anderer
lehren, dass Dialog im Tiefsten nicht aus dem
bloßen Austausch von Informationen besteht, sondern
auf Momenten der Begegnung beruht, die
einen Menschen ergreifen, verwandeln, verändern
können. In seiner später berühmten Schrift
Ich und Du von 1923 wird er den Satz niederlegen:
»Alles wirkliche Leben ist Begegnung«.
Um aber diese Erfahrung wirklichen Lebens
zu machen, muss man durch Erfahrungen von
Vergegnungen hindurch. Muss sie durchschauen
lernen. Muss begreifen, wie oft man das Gegenüber
nicht als unverfügbares Du betrachtet, sondern
als ein Es benutzt hat, verdinglicht, verzweckt.
Das ist in einer Zeit, in der Menschen vielfach
nur noch über Maschinen kommunizieren,
eine unbequeme Botschaft. Aber facebook-Kontakte
sind keine Begegnungen im Buberschen
Sinn. Sie verfehlen die personale Ich-Du-Beziehung.

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Veröffentlicht

2021-01-22