Martin Bubers Bedeutung für die Pädagogik
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.565Abstract
Das Werk als Gespräch
Auch wenn Martin Buber, wie Ernst Simon
bemerkt, einen Lehrstuhl für Pädagogik an der
Universität Jerusalem mit der Begründung, »das
Fach habe ihn stets mehr praktisch als theoretisch
interessiert«2, ausgeschlagen hat, so hat doch sein
ganzes Werk pädagogischen Charakter. Es will den
Leser dazu anregen, sein Selbst- und Weltverhältnis
zu bedenken, oder anders formuliert: beim Leser
Bildungsbewegungen anstoßen.
Deutlich wird dies in dem Motto, das Buber
dem handschriftlichen Manuskript von »Ich und
Du« voranstellt. Hier redet er den Leser direkt an,
verlangt ihm ab, den Text nicht nur als möglichen
neuen Wissensbestand, sondern als Ansprache an
ihn zu lesen, der es sich zu stellen gelte. Die Streichungen
hat Martin Buber selbst vorgenommen:
»Du der dies liest – bereite Dich:
Was Du hier lesen willst, ist gesprochen
zu Dir gesprochen. – weiche nicht aus,
halte stand, blättre nicht um, ehe Du entschieden
hast: von diesem Lesen lassen
oder es als Wort vernehmen, was zu Dir
gesprochen ist.
Ich kenne Dich nicht, ich liebe Dich nicht,
wie darf ich Du zu Dir sagen?
Ich kenne Dich, ich liebe Dich, ich sage
Du zu Dir, ich rede Dich an.« 3
Buber hat dieses Motto nicht in die Druckfassung
aufgenommen, aber die Figur der direkten Anrede
des Lesers findet sich auch an anderen Stellen.
So schreibt er in Ich und Du, nachdem er das
Verunsichernde, Irritierende der Begegnung thematisiert
hat: »Und in allem Ernst der Wahrheit,
du: ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber
wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch.« 4
Der Leser soll sich nicht nur in ein philosophisches
Gedankengebäude einarbeiten. Mit diesem
du wird er aufgefordert, die beiden Grundworte,
die er bisher vielleicht nur distanziert in ihrer begrifflichen
Entfaltung zur Kenntnis genommen
hat, in eine Beziehung zum eigenen Leben zu
bringen.
Buber vollzieht hier im Schreiben den Wechsel,
der sich imWeg des Menschen im Gespräch
von Rabbi Schnëur Salman, dem Raw von Reussen,
und dem Obersten der Gendarmerie ereignet.5
Zwischen dem Obersten der Gendarmerie und dem
inhaftierten Rabbiner entspinnt sich ein Gespräch,
in dem der Oberste die Frage stellt: »Wie ist es zu
verstehen, daß Gott der Allwissende zu Adam
spricht: ›Wo bist du?‹«6. Der Rabbiner hätte nun
mit einer Darstellung und Erörterung unterschiedlicher
Auslegungen dieses scheinbaren Widerspruchs
antworten können. Stattdessen wechselt
er, nachdem er sich zunächst eines gemeinsamen
Horizonts vergewissert hat, die Ebene und zeigt,
dass der Oberste mit dieser Frage selbst angesprochen
ist. »So etwa spricht Gott: ›Sechsundvierzig
Jahre hast du gelebt, wo hältst du?‹« 7 Wo hältst
du? Wo hältst du inne im Getriebe der alltäglichen
Beschäftigungen? Wo ist dein Halt? Als der Oberste
die Zahl seiner Jahre hört, wahrt er zwar die
Form und meistert die Situation mit einem Schulterklopfen,
»[a]ber sein Herz flatterte« 8, die distanzierte
Erörterung eines Problemkreises schlägt
um in eine Irritation seines Selbst- und Weltverhältnisses.