Mitwirkung am Reich Gottes. Hermann Cohen über die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen

Autor/innen

  • Bernd Harbeck-Pingel

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.575

Abstract

Gerhard Tammen gewidmet
Krisenerfahrungen werden in der medialen
Öffentlichkeit nicht selten kommunikativ zügig
bewältigt: mit der Forderung nach Zusammenhalt
oder mit der Unterstellung gemeinsamer Werte.
Wie aber Zusammenhalt dann, wenn er gefährdet
scheint, durch bloßes Erinnern bei fehlender Motivation
wiederhergestellt würde, bleibt ebenso
rätselhaft wie das, was mit Zusammenhalt und
Werten gemeint ist. Denn Gesellschaft unter den
Voraussetzungen der gegenwärtig möglichen Mobilität
und des gegenwärtig möglichen Mediengebrauchs
ist etwas anderes als das Beieinandersein
von Personen als gemütliche Intersubjektivität, die
auf dem Sofa der Grundsicherung nur ein wenig
mehr beieinander sein müssten. Wer also mit wem
zusammenhalten könnte, wäre erst mühsam zu
erörtern – der Träger des Pullovers mit seinen
zahlreichen über die Welt verstreuten Produzenten?
Vollends unsicher ist der Rekurs auf vermeintlich
geteilte Überzeugungen, weil der Modus des
Teilens von Überzeugungen, deren Genese, Stabilisierung
und Veränderungen als wiederholte Artikulation
nicht austauschbar sind, gegen die Überzeugungen
anderer, die auf dieselbe Weise Bestand
haben oder nicht. Zwar wird man wegen
des Mediengebrauchs erwarten können, dass Personen
bei der Rechtfertigung ihrer Überzeugungen
weniger originell sind als der auch nicht sehr
originelle Diskurs über die Originalität subjektiver
Haltungen es erwarten lässt. Dass aber für Gesellschaften
und damit also nicht für gruppenbezogenes
Handeln eine Zentralsemantik aus ethischen
Grundbegriffen orientierend sein sollte, ist epistemologisch
wenig plausibel, weil die Urteilskraft
nicht darauf zu justieren ist – in ethischer Hinsicht
ist die Reduktion auf Werte dagegen schlicht autoritär.
Während der Zusammenhalt also psychologisch
überforderte, bliebe die Frage offen, was
eine Gesellschaft von Werten überhaupt hätte,
denn ob und wie Begriffe zu realisieren sind, erscheint
komplexer als die Gegenüberstellung von
Überzeugung und Handeln es suggeriert.
Die dargelegten Vereinfachungen verweisen indes
auf ein Problem in der Gesellschaftstheorie,
das Hermann Cohen klar bezeichnet hat und für
das er eine frappierende Aussicht anbietet. In einem
Vortrag über das Gottesreich aus dem Jahr 1913 2
befasst er sich mit der Relevanz jüdischer Überzeugungen
für die Mitgestaltung der Gesellschaft.
Insofern Gesellschaften sich in ökonomischen, juridischen
und politischen Prozessen ausdifferenzieren
(42), sind sie dennoch außerstande, Kriterien
für die Veränderung dieser Prozesse aus der
Logik von Wirtschaft, Recht und Staat selbst zu entwickeln
(43). Sie bedürfen der Ergänzung und
Berichtigung (43) durch Sittlichkeit, Kultur und
Religion.
Cohen konkretisiert diese These: »Das Gottesreich
ist der derjenige Begriff, der alle die sittlichen
Motive in sich faßt, welche im modernen
Begriffe der Gesellschaft wirksam werden. Das
Gottesreich ist der Begriff, aus dem erst der Begriff
der Gesellschaft seine innersten Kräfte gesogen
hat.« (44)
Die sozialethischen und theologischen Kategorien
entwickelt Cohen aus einer Logik der Gegensätze
und ihrer Wechselwirkung (44 – 45); bezogen
auf Gott selbst sind es Gerechtigkeit [...].

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Veröffentlicht

2021-01-22

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