»Nun gehe hin und lerne!« Lernschritte auf dem Weg zu einer christlichen Theologie in Israels Gegenwart
DOI:
https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.576Abstract
Vortrag anlässlich der Verleihung
der Buber-Rosenzweig-Medaille
an die Konferenz Landeskirchlicher
Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK),
Frankfurt am Main, 2017
»Was dir nicht lieb ist, füge auch keinem anderen
zu. Das ist die ganze Tora, alles andere ist
Auslegung – nun gehe hin und lerne!«
So einfach und schlicht hätte es sein können
auch im Verhältnis von Christen und Juden – einfach
und schlicht wie in der Goldenen Regel aus
dem Munde des weisen Hillel an die Adresse des
Suchenden und nach Weisung Fragenden. Ebenso
elementar wie fundamental, ins Tun einweisend,
einen Weg eröffnend. So einfach – und in
der Geschichte über Jahrhunderte, zumal in der
christlich-jüdischen, so schwer.
»Nun geh hin und lerne« – geh lernend einen
Weg: für die christliche Kirche und ihre Theologie
ein langer Weg heraus aus Argwohn und Missgunst
gegen die Juden hin zu einer Weggemeinschaft –
hier und heute! – mit dem bleibend erwählten
Volk Gottes. Und das könnte ja schon der entscheidende
Lernschritt sein, das Gottesvolk als
Größe der Gegenwart wahrzunehmen und nicht
immer nur in der Vergangenheitsform vom Judentum
zu sprechen.
Die Basisgeschichte aus dem Talmud ist
schnell erzählt: »Einst trat ein Goj/ein Mensch
aus der Völkerwelt vor Schammai und sprach zu
ihm: Mache mich zum ›Proselyten‹ – bzw. etwas
zurückhaltender übersetzt: Bring mich heran an
deine Religion unter der Bedingung, dass du mich
die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Bein
stehe. Da stieß er ihn fort mit der Elle, die er in
der Hand hatte. Darauf kam er zu Hillel und dieser
machte ihn zum ›Proselyten‹/eröffnete ihm
einen Zugang und sprach zu ihm: Was dir verhasst
ist, das tue auch deinem Nächsten nicht.
Das ist die ganze Tora, alles andere ist Auslegung.
Geh und lerne!« (Babylonischer Talmud, Schabbat
31a).
Der Talmud illustriert mit dieser Episode zunächst
einmal die Sanftmut und Geduld Hillels
im Gegensatz zum Jähzorn Schammais.
Hillel, ein Mann sozusagen mit Migrationshintergrund
– wohl gegen Ende des 1. Jahrhundert
vor unserer Zeitrechnung aus Babylonien nach
Eretz Israel eingewandert – ihm gebührt denn
auch nach Aussagen des Talmud (ebd.) höchstes
Lob aus dem Munde des herzugekommenen
Fremden: »O sanftmütiger Hillel, mögen Segnungen
auf deinem Haupte ruhen, denn du hast mich
unter die Fittiche der Gottesgegenwart gebracht.«
Besagte Goldene Regel findet sich in der jüdischen
Tradition seit dem 2. Jahrhundert vor unserer
Zeitrechnung, und zwar zunächst im hellenistisch-
jüdischen Bereich. Das Buch Tobit formuliert
als Weisung des Vaters an seinen Sohn vor
dessen Aufbruch in die Fremde: »Und was du hassest,
das tue keinem an!« Bei Philo begegnet die
Sentenz: »Was jemand selbst zu erleiden verabscheut,
soll er selbst nicht tun.«
Die aramäische Bibelübersetzung versteht die
Goldene Regel als Äquivalent des Gebotes der
Nächstenliebe, insbesondere des »wie dich selbst«
bzw. »wie du selbst«. Lev 19,18 heißt dann im
Targum rückübersetzt: »Du sollst deinen Nächsten
lieben; denn was dir unliebsam ist, sollst du
auch deinem Nächsten nicht tun« (Targum Pseudo-
Jonathan).