Die Zeit der Entwurzelten. Zur Aktualität und bleibenden Bedeutung des Werks von Elie Wiesel

Autor/innen

  • Reinhold Boschki

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.633

Abstract

Hinführung
Es gibt auf dieser Erde Millionen von Entwurzelten.
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
und umso mehr das noch junge 21. Jahrhundert
sind gekennzeichnet durch massenhaft erzwungene
Entwurzelung, Vertreibung, Deportation,
Flucht. Der Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel
wid met diesen Flüchtlingen in seinem Gesamtwerk
seine besondere Aufmerksamkeit. Denn er
selbst war in seiner Jugendzeit ein Deportierter,
wur de zusammen mit seiner Familie, der jüdischen
Gemeinde von Sighet und Millionen weite -
rer Juden in die Todeslager deportiert.
Nachdem er mit knapper Not überlebte, gehör
te er zunächst zur Gruppe der Displaced Persons
– heute würde er als »unbegleiteter Min derjähriger
« bezeichnet. Er blieb sein Leben lang ein
Entwurzelter, der sich oft kindlich nach seiner
Hei mat sehnte, nach der heilen Welt, die für im -
mer verloren war: »Seit ich Sighet verlassen ha b e,
verbringe ich meine Zeit damit, über die Stadt zu
er zählen, die mir alles gegeben und alles genommen
hat.«
Am Thema Flucht und Vertreibung zeigt sich
unter anderem die Aktualität des Werks, das um
die Erinnerung an die Schoah kreist, ein Werk,
das jedoch weit über die Vernichtung der Juden
im Nationalsozialismus hinaus weist. Denn im
schwarzen Spiegel der Schreckenserfahrungen der
Schoah zeigt der Autor auf alle anderen menschli -
chen Katastrophen in Geschichte und Gegenwart,
in denen die Humanität mit Füßen getreten wird.
Die Schoah ist das Brennglas für die Wahrnehmung
anderer Abgründe des Menschseins.2
1 Ein breites und vielfältiges Lebenswerk
Elie Wiesel hat seit den ersten Tagen seiner Be -
freiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald,
wohin er nach Aufgabe des Vernichtungslagers
Auschwitz durch die Nazis deportiert wurde, angefangen
zu schreiben. Ein Satz am Ende seines
ersten, auf Jiddisch verfassten Berichts …un die
Welt hot geschwign (…und die Welt schwieg),
der 1956 publiziert wurde, weist darauf hin, dass
er nicht erst Mitte der 1950er Jahre seine Erfahrungen
der Todeslager niederschrieb, sondern sich
zuvor bereits Notizen, Skizzen und Tagebucheinträge
gemacht hat. Wiesel schildert, wie sich nach
der Befreiung die überlebenden Insassen auf die
verbliebenen Nahrungsmittel, die zum Teil verdor -
ben waren, stürzten. Der siebzehnjährige Wiesel
zieht sich eine Lebensmittelvergiftung zu, der er
fast erlegen wäre, und liegt tagelang in der Krankenstation
des ehemaligen Lagers. Eines Tages
richtet er sich auf und will in den Spiegel blicken,
der an der gegenüberliegenden Wand hing. Er
hatte sich seit der Deportation nicht im Spiegel
ge sehen.
An dieser Stelle endet die spätere französische,
stark gekürzte Version La Nuit (1958) mit dem
Satz: »Aus dem Spiegel blickte mich ein Leichnam
an. Sein Blick verlässt mich nicht mehr.« 3
In der ursprünglichen knapp 250 Seiten starken
jid di schen Version hebt der Überlebende die Faust,
zerbricht den Spiegel und fällt ohnmächtig zu Bo -
den.4 Danach verbessert sich, wie Wiesel weiter
schreibt, sein Gesundheitszustand rasant: »Ich
blieb noch einige Tage im Bett, während denen ich
angefangen habe, die Skizze des Buches zu schrei -
ben, das du, werter Leser, in den Händen hältst.«5

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Veröffentlicht

2021-01-23