Schreiben, um zu verstehen und verstanden zu werden

Autor/innen

  • Ingrid Anderson

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.638

Abstract

In den Jahren meines Studiums bei Elie Wiesel
waren etwa die Hälfte seiner Studenten keine
Juden und hatten nur sehr wenig Vorwissen über
das Judentum. Ich beobachtete mit großem Interesse,
wie Wiesel diesen Studierenden genügend
über jüdische Geschichte, jüdisches Leben und
jüdische Praxis beibrachte, damit sie verstehen
konnten, was am Baal Schem Tow so revolutionär
war, und gleichzeitig weitergehende Diskussionen
mit denjenigen von uns ermöglichen konnte,
die mit jüdischen Texten und Traditionen vertraut
waren – als wäre das die einfachste Sache der Welt.
In diesen frühen Tagen des Studiums bei ihm wurde
mir klar – sogar bevor ich sein Werk als Schriftsteller,
Theologe und Philosoph lieben und schätzen
lernen konnte –, dass uns von Anfang an ein
tiefgehendes Engagement für ähnliche pädagogische
Ziele gemeinsam war: die Verpflichtung von
Studierenden zum Dialog als verwandelnde Begegnung
zu entdecken, zu entwickeln und zu ermutigen
– Studierenden dabei zu helfen, die Fähigkeit
zum Verstehen und zum Verstandenwerden
zu entwickeln, auch wenn diese Zielsetzung nicht
unmittelbar einzulösen war.
Jahr um Jahr packte der ansteckende Enthusiasmus
Wiesels in Bezug auf das Judentum seine
Studierenden; und natürlich war Wiesels Judentum
verbunden mit einem Streben nach sozialer
Gerechtigkeit, Dialog mit anderen, Kampf gegen
Gleichgültigkeit und der Wertschätzung jedes einzelnen,
ja, sein Jüdischsein war gewiss die Quelle
für all dies. Jüdische Studien – und vielleicht kulturelle
Studien überhaupt – vermögen uns zu aktivieren,
zu Fragen zu ermutigen, auf die es komplexe
Antworten gibt (oder gar keine Antworten),
die Wege auszuloten, auf denen wir unsere partikulare
Identität beibehalten können und sollen,
gleichzeitig aber fest in der Gesellschaft als ganzer
eingebunden bleiben.
Wiesel war ein Lehrer für Lehrer; er spürte,
dass seine Arbeit als Lehrer vielleicht der wichtigste
Beitrag war, den er in seiner Laufbahn leisten
konnte. Er sagte immer wieder einmal, er habe den
Eindruck, dass er auf jeden Fall Lehrer geworden
wäre, dass er vielleicht, wenn es nicht den Holocaust,
die Zerstörung seiner Heimat und die dadurch
erzwungene Ortsveränderung gegeben hätte,
in Sighet geblieben wäre und den Talmud gelehrt
hätte – aber er wäre in jedem Fall Lehrer geworden.
Stattdessen unterrichtete er Geisteswissenschaften
jüdischer Prägung an der Boston University.
In den letzten Jahren hat er dort das Elie
Wiesel Center for Judaic Studies aufgebaut und
damit begonnen, seine wichtigsten Hinterlassenschaften
lebendig zu erhalten. Dieser kurze Aufsatz
ist Teil meines Beitrags zu diesem Projekt.
Derzeit gebe ich an der Boston University
Schreibseminare im Feld der Jüdischen Studien.
Vor zwei Jahren hatte das Anfängerseminar den
Titel Jenseits der Nacht: Das Werk von Elie Wiesel;
es veranschaulichte, wie jüdische Texte und Traditionen
Wiesels Lehren geprägt hatten. In meiner
kurzen Darstellung, wie das Seminar Jenseits der
Nacht das Werk Wiesels zu erschließen versuchte,
wird meine eigene Pädagogik deutlich werden,
ebenso mein wissenschaftlicher Weg, der tiefgehend
von jüdischen Texten, Traditionen und Konzepten
geprägt ist.

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Veröffentlicht

2021-01-23