Jerusalem, drei mal heilig. Eine Wallfahrt der besonderen Art (I)

Autor/innen

  • Daniel Krochmalnik

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.647

Abstract

In »Stein gehauene Theologie«2 heißt es über
Jerusalem. Das ist ein gutes Vademekum in einer
Stadt, die von Religion besessen ist. Aber stimmt
es auch?
Die Einzahl ist sicher zu wenig. In diesem
»Konfliktraum des Monotheismus« 3 gibt es mindestens
soviel Jerusalem-Theologien wie Monotheismen.
Jeder Universalismus verschanzt sich
hier in eines der vier Viertel des alten römischen
Stadtplans, jeder kreist um seine heiligen Steine,
sogar um seinen eigenen Weltnabel. Die Geistlichen
und Pilger der verschiedenen Religionen und
Konfessionen bahnen sich ohne Blick für einander
eilig einen Weg durch den riesigen Markt, der
freilich keine Unterschiede macht und Devotionalien
aller Religionen feilbietet. Die Ballung der Heiligtümer
steht im umgekehrten Verhältnis zur
Gegnerschaft der Religionsgemeinschaften. Es gibt
keinen anderen Ort auf Erden, an dem so große
religiöse Gegensätze auf so engem Raum – 1 km2
– zusammenprallen. Diese einmalige Spannung
prädestiniert Jerusalem geradezu zum Ort der Erlösung.
In der Gegenwart aber löst sich jene in
Stein gehauene Theologie in der Vielfalt der Perspektiven
auf, sie wird von der Wirklichkeit zertrümmert.
Wenn man aber genau hinhört, dann
sprechen die Steine eine gemeinsame Sprache, sie
reden zu- oder vielmehr über- und gegeneinander,
sie erzählen »Gegengeschichten«4, die ihnen gewidmeten
Wallfahrten bezeichnete Henry Laurens
als »Gegendemonstrationen«5. Elie Wiesel
hat einmal gesagt, Jerusalem mache jeden Menschen
zum Pilger.
Unsere Reise nach Jerusalem war allerdings
eine Wallfahrt der besonderen Art, sie galt der dreimal
heiligen Stadt, nicht um die eigene petrifizierte
und festgeschriebene Identität zu zelebrieren,
sondern um dem Trialog der Heiligtümer zuzuhören.
Daraus ist ein kleines Dreipersonenstück
mit den folgenden Dramatis personae geworden:
1 KOTEL (Klagemauer)
2 HARAM (Felsendom u.a.)
3 GOLGOTHA (Grabeskirche)
So eine Wallfahrt ist freilich auch eine Zeitreise,
die nicht ohne Bücher im Gepäck unternommen
werden kann. Wenn wir einmal vom
Baedeker absehen, waren es vor allem drei Autoren,
die uns inspiriert haben: ein Generalist, ein
Spezialist und ein Essayist. Nach der Rückkehr
haben wir natürlich weitere Titel bestellt.
Erstens der jüngst verstorbene poetische Dogmatiker
Alex Stock, der zu einem illustrierten
Rundgang im locus sacer oder vielmehr zu einem
Abstieg in seine Geschichte einlädt und kenntnisreich
und kritisch seine loci theologici aufschließt.
6 Sein Fazit klingt postmodern: »Der topographische
Antagonismus im Zentrum der Heiligen
Stadt manifestiert wie nirgendwo sonst das
Menschenunmögliche einer Verschmelzung der
drei Monotheismen zu einem einzigen. Könnte
das auch ein Segen sein für Gott und die Welt,
weil es den Ausbau des Felsendoms zu einem
Turmbau zu Babel verhindert, dem Heiligtum
einer den Einen herbeizwingenden einsprachigen
Weltherrschaft und theokratisch kontrollierten
Zivilisation? Ist diese Differenz das bittere
Medikament des Himmels gegen das Gift monotheistischen
Hybris?«

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Veröffentlicht

2021-01-23