Überlieferung und Kompositionsstruktur von Ich und Du. Ein Neuansatz der Interpretation

Autor/innen

  • Andreas Losch

DOI:

https://doi.org/10.25786/cjbk.v0i01-02.559

Abstract

Den Freunden, die in diesen sieben Jahren
Mir nahe blieben, nahe kamen, nahe waren
Reich ich dies Buch, reich ich mich hin
zum Bunde:
Erkennt euch, schliesst den Kreis,
es ist die Stunde.2
Das Martin Buber Archiv in Jerusalem ist ein
reicher Schatz, den auch die bald abgeschlossene
Werkausgabe nicht ganz vollständig heben konnte.
Es ist ein einfaches Blatt in diesem Archiv (im
folgenden »Datierungsblatt« genannt), auf dem
sich die handschriftliche Vorlage für denjenigen
Eintrag Bubers zur Entstehungsgeschichte von
Ich und Du befindet, der sich gedruckt allein am
Ende der Erstauflage des Buches wiederfindet:
»Entwurf des Werks, dessen Anfang
dieses Buch ist: Frühling 1916;
erste Niederschrift dieses Buchs: Herbst 1919;
endgültige Fassung: Frühling 1922.« 3
Diese Stationen sollte man sich in ihrem genauen
Wortlaut gut einprägen, soviel sei bereits
verraten. Auf dem Datierungsblatt steht zudem
Folgendes zu lesen, was die ursprünglichere, weil
ausführlichere Fassung des oben Zusammengefassten
darstellt, so meine These:
»Dieses Buch stellt den Anfang eines Weges dar,
den ich weiter zu gehn und weiter zu führen versuchen
will. Der erste Entwurf des ganzen Itinerars
stammt aus dem Mai 1916; diese Niederschrift
des Anfangs habe ich erst im Mai 1922 beendet.
Möge die Ahnung eines Auftrags, die mir
in dieser Zeit, nicht immer aber immer wieder
beistand, bei mir bleiben.« 4
Dazu zunächst dreierlei:
1 Es heißt im ersten Satz der ausführlichen Fassung:
»…versuchen will«. Die tatsächlich ja nur
»versuchsweise« angedachten Wegstationen des
Werkes (nicht: des Buches Ich und Du) sind in verschiedenen
handschriftlichen Fassungen erhalten
5, sie spiegeln sozusagen Varianten des Itinerars
des angedachten Gesamtwerkes, von dem Ich
und Du nur der Anfang sein sollte.
2 Deutungsbedürftig ist der Beginn des Satzes
nach dem Semikolon. Man könnte meinen, er bezöge
sich auf den Vordersatz, also den Entwurf
des ganzen Itinerars. Der wird jedoch kaum bis
1922 gedauert haben und dann erst beendet worden
sein. Vielmehr meint Buber m.E. mit »diese
Niederschrift« wohl etwas, dass er vorliegen hat te,
zu dem das Blatt ursprünglich gehörte. Also die
erste Fassung von Ich und Du. Die später gedruckte
Kurzfassung verrät uns ja, dass diese Niederschrift
1919 begonnen wurde, und dann eben
1922 beendet worden ist.
3 Der wirkliche Auftrag, wie Buber es nennt,
erreicht diesen dann ja mit der Anfrage der Verdeutschung,
die er nur zusammen mit Franz Rosenzweig
durchführen wollte. Dies legt nahe,
dass einer der oben im eingangs zitierten Gedicht
genannten Freunde bereits Rosenzweig war; er
ist vermutlich eher gegen Ende von Ich und Du
zu finden, weil die beiden sich spät kennenlernten6
– was immer denn das ursprüngliche Ende
darstellt. Die Begegnungen mit nahen Freunden,
so eine weitere zentrale These für diesen Aufsatz,
bestimmen also die Kompositionsstruktur von Ich
und Du. Man möchte Bubers Gedicht aufnehmen
und sagen: Erkennt sie, schließt den Kreis, es ist
die Stunde.

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Veröffentlicht

2021-01-22