Auf gute Nachbarschaft – Pami?tasz? Erkundungen zu einer transnationalen Spurensuche und Erinnerungskultur

Autor/innen

  • Sr. Raphaela Brüggenthies

DOI:

https://doi.org/10.25786/zfbeg.v0i01-02.764

Abstract

Die Welt ist klein, so möchte man sagen, als
die Ich-Erzählerin in Katja Petrowskajas2 autobiografischem
BuchVielleicht Esther (2015) in Warschau
zufällig ihrem Nachbarn aus Berlin begegnet.
Welch schöne Überraschung, hätte sie da nicht
gerade ein Theaterstück gelesen, in dem es um Klassenkameraden
geht, Polen und Juden, die »zusammen
aufwuchsen, zusammen lebten, einander
mochten und sich dann gegeneinander wendeten
und einander töteten«.3Wie ist so etwas möglich?
Nicht der Zufall der schönen Begegnung, sondern
der Zerfall nahbarer Menschlichkeit, einer guten
Nachbarschaft? Beiläufig, so scheint es, erwähnt
die Ich-Erzählerin, dass sich das Theaterstück auf
ein Buch mit dem Titel Nachbarn beziehe, führt
diesen Hinweis dann aber nicht weiter aus, sondern
bleibt an der Ambivalenz des Beziehungs-
Wortes hängen und an dem, was da Schreckliches
geschehen sein muss, in dieser kleinen polnischen
Stadt, deren Namen sie (daher) nicht aussprechen
kann, zwischen Nachbarn, »im Delirium,
in der Finsternis, im Affekt oder auch gerne«.4
Vor genau 80 Jahren, am 10. Juli 1941, wenige
Tage nach dem Überfall der Wehrmacht auf
die Sowjetunion, ereignete sich im ostpolnischen
Städtchen Jedwabne, 160 Kilometer nordöstlich
von Warschau, ein grauenhaftes Massaker – von
Deutschen angestiftet, von katholischen Polen an
ihren jüdischen Nachbarn bereitwillig ausgeführt.
Die jüdische Bevölkerung des Ortes wurde zusammengetrieben,
stundenlang gedemütigt, misshandelt
und gequält. Am Ende scheuchten Einwohner
die meisten der Juden in eine Scheune und
steckten diese an. Hunderte Menschen, jüdische
Kinder, Frauen und Männer, verbrannten bei lebendigem
Leib, während die einheimischen Täter
die Häuser ihrer Opfer – d. h. ihrer Nachbarn –
plünderten. Wie war das möglich? Wie verhält
sich Nachbarschaft zu Mitläufer-, Täter-, Komplizen-
und Nutznießerschaft? Schafft das deutsche
Suffix nicht ein Kollektiv? Gesellschaft, Bruderschaft,
Partnerschaft, Freundschaft – Nachbarschaft?

Veröffentlicht

2021-09-22